Erinnerung an jüdisches Leben in Nierstein

 

Nierstein. Bei bestem Herbstwetter begleiteten rund 40 Teilnehmer die Aktiven des Geschichtsvereins und des Arbeitskreises Stolpersteine auf ihrem Rundgang durchs jüdische Nierstein. Der zweite Vorsitzende des Geschichtsvereins, Hans-Uwe Stapf, leitete die Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Novemberpogrome ein, schilderte anhand von Zitaten die Stimmung etlicher Juden in Deutschland: "Gehen oder doch noch bleiben und abwarten?"

     

   

An fünf ausgewählten Stationen erinnerten Dr. Susanne Bräckelmann, Matthias Hammes und Wolfgang Kemp an das Schicksal der jüdischen Mitbürger, die in Nierstein geblieben waren und erleben mussten, wie im Verlauf der Novemberpogrome ihre Häuser demoliert, ihre Wohnungen unbewohnbar gemacht und all ihre Habe zerstört wurde: bei Familie Feiner in der Oberdorfstraße 19, Familie Goldschmidt in der Glockengasse 7/9 sowie den Familien Wolf, Hirsch, Koch, Sonnenberg und Kaufmann in der Rheinstraße 3, 12 und 38.

Der erste Anstoß zu den Gewalttätigkeiten am 9. und 10. November 1938 ging von auswärtigen SA- und SS-Leuten aus, eine gezielt gesteuerte Aktion, damit die Täter vor Ort nicht identifiziert werden konnten. Doch waren, so machten die drei Referenten anhand erst jetzt öffentlich zugänglicher Gerichtsakten aus den Jahren 1945 bis 1947 deutlich, auch

     

einige Niersteiner maßgeblich an den schockierenden Ausschreitungen beteiligt. Getroffen hat es jüdische Familien, denen bereits in den Jahren zuvor durch Hetzkampagnen, Boykottaufrufe und Berufsverbote systematisch die wirtschaftliche Existenzgrundlage entzogen worden war. So waren sie schließlich gezwungen, ihre Häuser zu verkaufen und Nierstein zu verlassen. Nur wenigen gelang es, nach den Novemberpogromen noch zu emigrieren, die meisten mussten zunächst nach Mainz in sogenannte "Judenhäuser" ziehen.

Das Ehepaar Wolf aus der Rheinstraße 3 nahm sich, nachdem ihm in Nierstein die Ausstellung von Pässen für die Auswanderung verweigert wurde, das Leben. Alle anderen jüdischen Niersteiner wurden von Mainz aus in den Jahren 1940 bis 1943 deportiert. Nur von einem dieser jüdischen Mitbürger ist bekannt, dass er diese Deportation überlebt hat, alle anderen wurden ermordet.

 
     
    

Im Anschluss an den Rundgang versammelten sich die Teilnehmer in der Weinstube Buhl auf dem Tempelhof zur Lesung von Gedichten einer jungen jüdischen Autorin. Bewegend trug Johanna Stein Beispiele aus der Liebes- und Naturlyrik von Selma Meerbaum-Eisinger vor, die 18-jährig in einem Arbeitslager in der Ukraine starb. Ihr Manuskript mit 57 Gedichten galt als verschollen und wurde erst 1980 wieder entdeckt und veröffentlicht.

Die ausgewählten Gedichte machten die melancholische Grundstimmung und schließlich spürbar zunehmende Verzweiflung der jungen Lyrikerin deutlich. Eindrucksvoll begleitete Ulrike Becker mit Gesang und Gitarre die Lesung mit ausgewählten Chansons wie Reinhard Meys "Die Kinder von Izieu".

 

Für 30 jüdische Mitbürger haben der Niersteiner Geschichtsverein und sein Arbeitskreis bereits Stolpersteine verlegt. Die Namen und Schicksale sind bereits auf unserer Homepage dokumentiert. Weitere 30 Stolpersteine sollen in zwei Schritten in 2014 und 2015 verlegt werden.

 

Bilder:

  1. Hans-Uwe Stapf, zweiter Vorsitzender des Geschichtsvereins (links), erläuterte zu Beginn der Gedenkveranstaltung die historischen Hintergründe der Novemberpogrome. Bild: Heiner Bräckelmann
  2. In der Rheinstraße schilderte Wolfgang Kemp das Schicksal der Familie Wolf. Bild: Heiner Bräckelmann
  3. Johanna Stein trug Gedichte von Elsa Meerbaum-Eisinger vor. Bild: Heiner Bräckelmann

 

Nierstein, November 2013