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Sechs unschuldige Menschen, fünf Niersteiner und ein Oppenheimer Bürger verloren im Angesicht ihrer Heimat ihr Leben, weil sie von einem denunziert, von einem verurteilt und von einem erschossen wurden. Diese Tat geschah in den letzten Stunden der Nazi-Herrschaft bei uns, fast zeitgleich mit dem Eintreffen der Amerikaner in Nierstein. Die Morde wurden - wie der Niersteiner Arzt Heinz Zimmermann einen Monat später in seinem gerichtsärztlichen Zeugnis feststellte "auf grauenhafte Weise erledigt", die "von einer grenzenlosen Gefühlsrohheit" zeuge. In
jenen Tagen 1945 kurz vor dem Zusammenbruch als die amerikanischen Truppen
immer näher rückten, wurden durch Alfred Schniering, einem ehemaligen
Leiter eines Schulungslagers der NSDAP und Angehörigen des Reichsverteidigungskommandos
West, beim Niersteiner NSDAP-Ortsgruppenleiter Georg Ludwig Bittel, politische
Gegner für einen Arbeitseinsatz angefordert. Während der spätere
Bürgermeister Andreas Licht der Verhaftung entgehen konnte, wurden
am Abend des 18. März die Sozialdemokraten Cerry und Johann Eller
sowie der frühere Reichsbannerführer Jakob Schuch und die Kommunisten
Georg Eberhardt, Nikolaus Lerch und Ludwig Ebling verhaftet. Die Verhafteten
hatten zwar auch unter der Nazi-Diktatur aus ihrer politischen Gesinnung
keinen Hehl gemacht, sich aber ansonsten nicht betätigt. Frau Eller und die fünf Männer werden zunächst zur NSDAP-Kreisleitung nach Groß-Gerau geschafft. Dort kann man mit ihnen nichts anfangen. Bei der Gestapo in Darmstadt erfahren sie sodann, sie seien als "Kommunisten" und wegen "Aufwiegelei" verhaftet. Am Morgen des 21. März jedoch liegt plötzlich nichts mehr gegen sie vor, sie werden freigelassen und machen sich auf den Weg zurück nach Nierstein. Gegen
11 Uhr kommen sie am Kornsand an, dort befindet sich der Brückenkopf
in Auflösung. Die Niersteiner begeben sich zur Fähre und warten
auf Überfahrt. Es war der junge Leutnant Heinrich Funk aus Nierstein,
der dies verhindert. Er erklärt sinngemäß, bei dieser
Gruppe handele es sich um die größten Verbrecher und Lumpen
von Nierstein, die aus dem KZ abgehauen seien und jetzt Sabotage treiben
wollten. Ludwig Ebling gelingt es mit Hilfe seines Mieters Markloff, der
ihm seinen SA-Ausweis zusteckt, sich zu retten. Die anderen werden auf
Veranlassung und unter aktivem Einsatz von Funk wieder an Land geholt.
Gegenüber Schnierung macht Funk noch einmal klar, dass diese Personen
nicht übersetzen dürften, denn es seien Kommunisten. Das wisse
er als Niersteiner. Für die Durchführung der Erschießungen findet Schniering zunächst keinen Freiwilligen. Soldaten, Volkssturmleute und Offiziere lehnen es ab. Erst der junge Leutnant Hans Kaiser meldet sich mit den Worten: "Wenn ihr alle zu feige seid, dann mache ich es eben." Die sechs Menschen mussten ihre Gräber selbst ausheben, bevor sie durch Genickschuss ermordet werden. Wenigstens drei der Opfer wurden zuvor misshandelt wie bei der Untersuchung der Leichen einen Monat später festgestellt wurde. Es
dauerte Jahre bis sich die Gerichte mit den Mordtaten beschäftigten.
Im Prozess gegen Schniering, Kaiser und Bittel werden am 24. September
1949 die Urteile gesprochen:
Keiner
der Täter hat seine Strafe vollständig verbüßt. Ich
habe über die Opfer und die Täter des Kornsandverbrechens gesprochen.
Allerdings ist der 21. März 1945 nicht vom 30. Januar 1933 zu trennen.
Und so tritt neben die Frage nach individueller Schuld, die Frage nach
der darüber hinausgehenden Verantwortung, die Frage nach kollektiver
Scham. Diese Morde sind am Ende nicht zu erklären ohne viele Ereignisse,
die die Zeit der Nazi-Herrschaft füllen. Wegsehen, sich wegducken,
mitmachen. Nicht im Großen, im Kleinen begann es, nicht in den braunen
Machtzentren, sondern in jedem kleinen Ort. Ich freue mich darüber, dass heute Nachkommen der Opfer unter uns sind und möchte Herrn Karl Schuch, Frau Gertrude Weber, geborene Eller, und Frau Gruber-Wolkewitz herzlich begrüßen. Frau Edith Eller, die derzeit noch Praxistermine wahrnimmt, hat mich gebeten, sie zu grüßen. Ich weiß wovon ich rede, wenn ich sage, dass sich Menschen in Nierstein bis heute schwer tun, damit umzugehen. Es ist deshalb notwendig zunächst einmal auszusprechen, was war. Wir müssen uns den Tatsachen stellen, insbesondere die jüngere Generation informieren und sodann die notwendigen Schlüsse ziehen. Deshalb haben wir besonders auch die Schulen eingeladen, sich die Ausstellung anzusehen und auch Sondertermine angeboten. Ja, gewiss es gibt ein jährliches Gedenken auf dem Kornsand, seit 1954 am damals errichteten Gedenkstein, gewiss es gibt Publikationen, zahlreiche Zeitungsveröffentlichungen, auch in der offiziellen Chronik der Gemeinde Nierstein von 1992 wird das Kornsand-Verbrechen dargestellt, seit 1985 heißt die Straße an der Fähre "Straße der Kornsand-Opfer". Lassen
Sie mich an dieser Stelle die Vertreter der Gemeinden begrüßen:
Herrn Beigeordneten Anton Martensen von der Verbandsgemeinde Nierstein-Oppenheim
in Vertretung von Herrn Bürgermeister Penzer, der sie herzlich grüßen
lässt und zeitgleich einen Termin in Selzen wahrnehmen muss. Den
Opfern, dem Ablauf des Geschehens, den Tätern und ihrer Schuld wendet
sich die Ausstellung zu, die wir heute eröffnen. Nach 61 Jahren ist
damit erstmals in Nierstein das Kornsand-Verbrechen Gegenstand einer Ausstellung.
Das
Verbrechen auf dem Kornsand steht bis heute symbolhaft für die Unmenschlichkeit
und Unbarmherzigkeit der Nazi-Diktatur. Dennoch hört man immer wieder, ob nicht endlich Schluss sein könne mit dem Aufwärmen von längst Vergangenen, mit dem wir heute ja gar nichts mehr zu tun hätten. Ohne sich mit dem Vergangenen auseinander zu setzen, kann heute nicht gesagt werden, was vermieden und was getan werden muss. Prof. Leo Trepp aus Mainz stammender Rabbiner, heute 93 Jahre alt, konnte nach KZ Haft 1939 nach den USA emigrieren, verlor Angehörige im Holocaust, kehrte nach 1945 wieder nach Deutschland, lebt zeitweise in Berlin und in San Rafael (CA), lehrt heute noch als Gastprofessor an der Uni Mainz. Er lebte Versöhnung und - ich kenne ihn persönlich - vermittelt bis heute Zuversicht. Er ist sicher, die Deutschen haben gelernt aus der Vergangenheit. Im letzten Jahr bei der Gedenkstunde des Landtags am 27. Januar, am nationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, sagte Prof. Trepp: "In der Aufarbeitung der Vergangenheit wird Deutschland ethisch immer größer, das ist meine Hoffnung." Diese Hoffnung dürfen wir nicht enttäuschen. Die Ausstellung über die Kornsand-Morde und das Gedenken und die Erinnerung an diese Schreckenstat sind ein Beitrag dazu." |