Begrüßungsansprache bei der Eröffnung
der Ausstellung "Das Kornsandverbrechen"
in Nierstein, Paul-Hexemer-Begegnungsstätte,
am 17. März 2006, 18 Uhr

 
"Meine Damen und Herren,

vor 61 Jahren - am 21. März 1945 - war unsere Region Schauplatz eines Verbrechens, ein Ort, an dem die menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus Stunden vor ihrem Zusammenbruch noch einmal ihre blutigen Spuren hinterließ.

   
Hans-Peter Hexemer bei der Begrüßungsansprache bei der Eröffnung der Ausstellung "Das Kornsandverbrechen" in Nierstein, Paul-Hexemer-Begegnungsstätte, am 17. März 2006, 18 Uhr

Sechs unschuldige Menschen, fünf Niersteiner und ein Oppenheimer Bürger verloren im Angesicht ihrer Heimat ihr Leben, weil sie von einem denunziert, von einem verurteilt und von einem erschossen wurden.

Diese Tat geschah in den letzten Stunden der Nazi-Herrschaft bei uns, fast zeitgleich mit dem Eintreffen der Amerikaner in Nierstein. Die Morde wurden - wie der Niersteiner Arzt Heinz Zimmermann einen Monat später in seinem gerichtsärztlichen Zeugnis feststellte "auf grauenhafte Weise erledigt", die "von einer grenzenlosen Gefühlsrohheit" zeuge.

In jenen Tagen 1945 kurz vor dem Zusammenbruch als die amerikanischen Truppen immer näher rückten, wurden durch Alfred Schniering, einem ehemaligen Leiter eines Schulungslagers der NSDAP und Angehörigen des Reichsverteidigungskommandos West, beim Niersteiner NSDAP-Ortsgruppenleiter Georg Ludwig Bittel, politische Gegner für einen Arbeitseinsatz angefordert. Während der spätere Bürgermeister Andreas Licht der Verhaftung entgehen konnte, wurden am Abend des 18. März die Sozialdemokraten Cerry und Johann Eller sowie der frühere Reichsbannerführer Jakob Schuch und die Kommunisten Georg Eberhardt, Nikolaus Lerch und Ludwig Ebling verhaftet. Die Verhafteten hatten zwar auch unter der Nazi-Diktatur aus ihrer politischen Gesinnung keinen Hehl gemacht, sich aber ansonsten nicht betätigt.
Dennoch wurde Jakob Schuch schon 1934/35 zusammen mit Heinrich Hock III. im KZ Dachau interniert. Nikolaus Lerch gehörte zusammen mit anderen Sozialdemokraten und Kommunisten zu den ersten die 1933 ins KZ Osthofen verbracht wurden. Johann Eller begründete schon im Jahre 1907 den SPD-Wahlverein in Schwabsburg mit. Seine Frau Cerry, eine Halbjüdin, teilte seine politische Auffassung.

Frau Eller und die fünf Männer werden zunächst zur NSDAP-Kreisleitung nach Groß-Gerau geschafft. Dort kann man mit ihnen nichts anfangen. Bei der Gestapo in Darmstadt erfahren sie sodann, sie seien als "Kommunisten" und wegen "Aufwiegelei" verhaftet.

Am Morgen des 21. März jedoch liegt plötzlich nichts mehr gegen sie vor, sie werden freigelassen und machen sich auf den Weg zurück nach Nierstein.

Gegen 11 Uhr kommen sie am Kornsand an, dort befindet sich der Brückenkopf in Auflösung. Die Niersteiner begeben sich zur Fähre und warten auf Überfahrt. Es war der junge Leutnant Heinrich Funk aus Nierstein, der dies verhindert. Er erklärt sinngemäß, bei dieser Gruppe handele es sich um die größten Verbrecher und Lumpen von Nierstein, die aus dem KZ abgehauen seien und jetzt Sabotage treiben wollten. Ludwig Ebling gelingt es mit Hilfe seines Mieters Markloff, der ihm seinen SA-Ausweis zusteckt, sich zu retten. Die anderen werden auf Veranlassung und unter aktivem Einsatz von Funk wieder an Land geholt. Gegenüber Schnierung macht Funk noch einmal klar, dass diese Personen nicht übersetzen dürften, denn es seien Kommunisten. Das wisse er als Niersteiner.
Schnierung lässt daraufhin als "Vertreter des Gauleiters" die fünf verhaften. In der Fährwirtschaft Wehner befiehlt er ohne auch nur den Anschein eines Verfahrens zu wahren deren Erschießung. Wenig später wird auch der Oppenheimer Volkssturmmann Rudolf Gruber, der noch einmal nach Oppenheim wollte, um einen Rucksack zu holen, ins Fährlokal gebracht. Ihm wird Fahnenflucht vorgeworfen. Schniering befiehlt auch dessen Erschießung.

Für die Durchführung der Erschießungen findet Schniering zunächst keinen Freiwilligen. Soldaten, Volkssturmleute und Offiziere lehnen es ab. Erst der junge Leutnant Hans Kaiser meldet sich mit den Worten: "Wenn ihr alle zu feige seid, dann mache ich es eben." Die sechs Menschen mussten ihre Gräber selbst ausheben, bevor sie durch Genickschuss ermordet werden. Wenigstens drei der Opfer wurden zuvor misshandelt wie bei der Untersuchung der Leichen einen Monat später festgestellt wurde.

Es dauerte Jahre bis sich die Gerichte mit den Mordtaten beschäftigten. Im Prozess gegen Schniering, Kaiser und Bittel werden am 24. September 1949 die Urteile gesprochen:
Schniering erhält eine lebenslängliche Zuchthausstrafe. Kaiser wird zu zehn Jahren verurteilt. Bittel wird freigesprochen.
Schniering wird als die treibende Kraft der Mordtat angesehen, die Richter erkennen bei ihm auch eine im Charakter angelegte rücksichtslose Brutalität.
Bei Kaiser werden die politischen Einflüsse herausgearbeitet, die seine anerzogenen Hemmungen gelockert hätten, ebenso der Einfluss Schnierings. Jedoch hätte Kaiser auch in der damaligen Situation "zwischen Gut und Böse" unterscheiden müssen.
Schließlich wird festgestellt, dass fundamentale Grundsätze eines auch nur formal ordentlichen Verfahrens auf dem Kornsand unberücksichtigt geblieben seien. Schniering gab auch zu ohne höheren Befehl und ohne Standgericht die Erschießung befohlen zu haben. Bittel wurde zwar mangels Beweisen freigesprochen, allerdings stellte das Gericht fest, dass Verhaftungen von politischen Gegnern nur in Nierstein und sonst nirgends in der Umgebung vorgenommen wurden.
 

  
Der Leutnant Heinrich Funk blieb fünf Jahre untergetaucht. Erst im Jahre 1950 wird der Prozess gegen ihn durchgeführt. Er hatte denunziert. Er hat die Tötung durch Fahrlässigkeit verursacht, er hat die Spirale der Unmenschlichkeit erst in Gang gesetzt. Das Gericht sagt Funk habe sein Gewissen nicht "genügend angespannt" (Zitat aus der Urteilsbegründung). Und weiter: eine andere Handlungsweise sei erforderlich gewesen. Er hätte seinen Einfluss geltend machen müssen, um das Unheil zu verhindern. Einfache Soldaten seien Schniering entgegen getreten, nicht so Funk. Dieser habe die gebotene Hilfeleistung gegenüber seinen Niersteiner Mitbürgern bewusst unterlassen. Dennoch wird er nur zu drei Jahren Haft verurteilt, dieses Strafmaß wird 1953 sogar auf elf Monate reduziert.

Keiner der Täter hat seine Strafe vollständig verbüßt.
Während sich Kaiser 1985 - nach einem Bericht im "Stern" als resozialisiert ansieht, sagte Funk damals er "würde heute genau wieder so handeln wie an jenem 21. März 1945" und lebte in diesem Bewusstsein bis zu seinem Tod in Nierstein.

Ich habe über die Opfer und die Täter des Kornsandverbrechens gesprochen. Allerdings ist der 21. März 1945 nicht vom 30. Januar 1933 zu trennen. Und so tritt neben die Frage nach individueller Schuld, die Frage nach der darüber hinausgehenden Verantwortung, die Frage nach kollektiver Scham. Diese Morde sind am Ende nicht zu erklären ohne viele Ereignisse, die die Zeit der Nazi-Herrschaft füllen. Wegsehen, sich wegducken, mitmachen. Nicht im Großen, im Kleinen begann es, nicht in den braunen Machtzentren, sondern in jedem kleinen Ort.
Wer hat sich für Juden eingesetzt als sie aus den Vereinen verbannt wurden, wer als sie immer mehr ausgegrenzt wurden. Was geschah auch in Nierstein in jener Nacht des 9. November 1938, was als die Juden deportiert wurden.
Es gab viele Ereignisse, für die Menschen sich hätten schämen müssen, lange vor diesen Morden. Die ist Erinnerung notwendig, denn nur so geben wir den Opfern die Würde zurück, die ihnen ihre brutalen Mörder genommen haben.

Ich freue mich darüber, dass heute Nachkommen der Opfer unter uns sind und möchte Herrn Karl Schuch, Frau Gertrude Weber, geborene Eller, und Frau Gruber-Wolkewitz herzlich begrüßen. Frau Edith Eller, die derzeit noch Praxistermine wahrnimmt, hat mich gebeten, sie zu grüßen.

Ich weiß wovon ich rede, wenn ich sage, dass sich Menschen in Nierstein bis heute schwer tun, damit umzugehen. Es ist deshalb notwendig zunächst einmal auszusprechen, was war. Wir müssen uns den Tatsachen stellen, insbesondere die jüngere Generation informieren und sodann die notwendigen Schlüsse ziehen. Deshalb haben wir besonders auch die Schulen eingeladen, sich die Ausstellung anzusehen und auch Sondertermine angeboten.

Ja, gewiss es gibt ein jährliches Gedenken auf dem Kornsand, seit 1954 am damals errichteten Gedenkstein, gewiss es gibt Publikationen, zahlreiche Zeitungsveröffentlichungen, auch in der offiziellen Chronik der Gemeinde Nierstein von 1992 wird das Kornsand-Verbrechen dargestellt, seit 1985 heißt die Straße an der Fähre "Straße der Kornsand-Opfer".

Lassen Sie mich an dieser Stelle die Vertreter der Gemeinden begrüßen: Herrn Beigeordneten Anton Martensen von der Verbandsgemeinde Nierstein-Oppenheim in Vertretung von Herrn Bürgermeister Penzer, der sie herzlich grüßen lässt und zeitgleich einen Termin in Selzen wahrnehmen muss.
Ich begrüße für die Ortsgemeinde Nierstein Herrn Beigeordneten Sander und die anwesenden Ratsmitglieder und verbinde dies mit der Bitte, künftig auch auf den Internetseiten der Gemeinde das Thema Kornsand-Verbrechen aufzugreifen als Teil unserer Ortsgeschichte.
Ich freue mich, dass Herr Beigeordneter Frieder Reichert die Stadt Oppenheim vertritt.

Den Opfern, dem Ablauf des Geschehens, den Tätern und ihrer Schuld wendet sich die Ausstellung zu, die wir heute eröffnen. Nach 61 Jahren ist damit erstmals in Nierstein das Kornsand-Verbrechen Gegenstand einer Ausstellung.
Der Geschichtsverein Nierstein und die AWO Nierstein sind froh, diese Ausstellung präsentieren zu können und wir danken der Gemeinde Trebur für die Realisierung des Projekts. Ich freue mich, dass die Betreuer Frau Elke Hoeft und Herr Dr. Gottfried Schmidt bei uns sind und dass Herr Beigeordneter Walter Astheimer, den ich ebenfalls begrüße, ein Grußwort sprechen wird.

Seit 1985 wird nach Jahrzehnten getrennten Gedenkens auf dem Kornsand wieder gemeinsam in einem großen Kreis von Gemeinden und Initiativen der Opfer gedacht. Dafür ist vielen zu danken, besonders dem Arbeitskreis Kornsand, der seitdem existiert. Für diesen Kreis möchte ich stellvertretend Pfarrer Ullrich begrüßen, der im Anschluss ebenfalls ein Grußwort spricht.
Begrüßen möchte ich auch Jörg Adrian aus Nierstein, der vor vielen Jahren - schon als Schüler - die Kurzgeschichte "Die Fähre" geschrieben hat. Sie ist damals ausgezeichnet worden und Herr Adrian wird seinen Text anschließend vortragen.
Begrüßen und danken möchte ich schließlich Herrn Peter Klohmann, der auf dem Saxophon musikalisch die Eröffnung heute mitgestaltet. Vielen Dank für Ihre Mitwirkung.

  

Das Verbrechen auf dem Kornsand steht bis heute symbolhaft für die Unmenschlichkeit und Unbarmherzigkeit der Nazi-Diktatur.
Die Kornsand-Morde mahnen uns heute und zukünftig. Sie fordern uns, aktiv zu bleiben im Kampf gegen Ausgrenzung, Ungerechtigkeit und Intoleranz, gegen Antisemitismus und Rassenhass. Sie fordern uns, aktiv zu bleiben für eine menschliche und tolerante Gesellschaft, uns einzusetzen für eine Ordnung des Rechts, für die Demokratie, die nichts Selbstverständliches ist, sondern die erkämpft werden musste, unter Opfern erkämpft werden musste. Die Demokratie lebt nicht durch Teilnahmslosigkeit, sie wird nur dadurch gewahrt und lebendig gehalten, wenn viele mitmachen und sich engagieren. Partei ergreifen, sich einsetzten für das Gemeinwesen. Das gehört zu den Lehren der Nazi-Zeit.
Der Auftrag reicht freilich über Gedenktage wie den des Kornsand-Verbrechens hinaus und er darf nicht beschränkt sein auf den Staat und seine Organe, sondern wir sollten ihn alle als Verpflichtung empfinden. Das Vermächtnis der Opfer, der Männer und Frauen, die in dunkelster Zeit der Barbarei widerstanden haben und für eine humane, freiheitliche und demokratische Zukunft gekämpft haben, nehmen wir an, wenn wir uns der Geschichte stellen. Als Geschichtsverein sehen wir dies als Verpflichtung an.
Die heutige Generation, meine und die Nachgeborenen, sie tragen keine Schuld für die Verbrechen der Nazi-Zeit. Diese Zeit aber ist Teil der Geschichte unseres Landes, von der sich keiner abschieden kann und deshalb tragen wir auch heute noch eine besondere Verantwortung. Totschweigen geht nicht, sich aktiv damit auseinandersetzen, das ist notwendig. Wir reden über diese Zeit, über die Kornsand-Morde, damit Opfer nicht zweimal getötet werden: damals erschossen und heute Tod geschwiegen werden.

Dennoch hört man immer wieder, ob nicht endlich Schluss sein könne mit dem Aufwärmen von längst Vergangenen, mit dem wir heute ja gar nichts mehr zu tun hätten. Ohne sich mit dem Vergangenen auseinander zu setzen, kann heute nicht gesagt werden, was vermieden und was getan werden muss.

Prof. Leo Trepp aus Mainz stammender Rabbiner, heute 93 Jahre alt, konnte nach KZ Haft 1939 nach den USA emigrieren, verlor Angehörige im Holocaust, kehrte nach 1945 wieder nach Deutschland, lebt zeitweise in Berlin und in San Rafael (CA), lehrt heute noch als Gastprofessor an der Uni Mainz. Er lebte Versöhnung und - ich kenne ihn persönlich - vermittelt bis heute Zuversicht. Er ist sicher, die Deutschen haben gelernt aus der Vergangenheit.

Im letzten Jahr bei der Gedenkstunde des Landtags am 27. Januar, am nationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, sagte Prof. Trepp: "In der Aufarbeitung der Vergangenheit wird Deutschland ethisch immer größer, das ist meine Hoffnung." Diese Hoffnung dürfen wir nicht enttäuschen.

Die Ausstellung über die Kornsand-Morde und das Gedenken und die Erinnerung an diese Schreckenstat sind ein Beitrag dazu."