Ansprache des Vorsitzenden des Geschichtsvereins Nierstein Hans-Peter Hexemer
bei der zweiten Verlegung von Stolpersteinen am 13. Mai 2014

 

"Herr Bundestagsabgeordneter Held,
Frau Abgeordnete Anklam-Trapp,
Herr Beigeordneter Neumer,
Herr Beigeordneter Rüger,
Herr Kulturbeauftragter Stapf,
lieber Herr Demnig,
meine Herren Pfarrer,
liebe Mitstreiter in der Gedenkarbeit aus Nierstein und Umgebung,
Damen und Herren Stadträte,
liebe Schülerinnen und Schüler,
meine Damen und Herren:

Wie gehen wir mit unseren Erinnerungen um? Fragen wir uns das doch einmal selbst und versuchen wir Antworten? Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heiteren Stunden nur - so lautet ein Sprichwort. Von dem Dichter Jean Paul stammt der Satz: Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Aus den USA kommt das Wort: Was die Welt braucht, ist weniger Belehrung als Erinnerung.

Wie also gehen wir mit unseren Erinnerungen um? Zählen wir die schönen Begebenheiten, verschönern wir sie noch ein bisschen, glorifizieren sie? Lassen wir unangenehme Erinnerungen verblassen, schieben wir sie ganz nach hinten in unseren Erinnerungsschatz? Dort, wo wir Fehler gemacht, uns vielleicht sogar schuldig gemacht haben, versuchen wir die zu rechtfertigen, am liebsten zu verschweigen? Und sagen: Nein, das war ja nicht so schlimm.

Allerdings gilt auch: "Wenn du in der Zukunft lesen willst, musst du in der Vergangenheit blättern." Das sagte André Malraux, Schriftsteller, Widerstandskämpfer und Politiker in Frankreich im letzten Jahrhundert. "Wenn du in der Zukunft lesen willst, musst du in der Vergangenheit blättern." Mit diesem Satz hat sich kürzlich unser Pfarrer Richard Dautermann in einer Predigt beschäftigt, in der es auch um die Erinnerung, die Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit ging.

   

Wie wir uns an diese Zeit des Terrors und der Verfolgung erinnern, das ist auch ein wichtiges Anliegen des Geschichtsvereins Nierstein und seines Arbeitskreises Stolpersteine, in deren Namen ich Sie alle als Erster Vorsitzender heute Morgen herzlich begrüße. Wir sind zusammengekommen, um zum zweiten Mal in dieser Stadt Stolpersteine zu verlegen, die an 16 Opfer des Nationalsozialismus erinnern, die hier in der Oberdorfstraße und in der Rheinstraße als angesehene Bürgerinnen und Bürger lebten, bis die Nazis sie wegen ihres jüdischen Glaubens verfolgten, sie ausgrenzten, aus dem Land trieben, sie in Lager sperrten und ermordeten.

Dieser Menschen wollen wir uns heute und in Zukunft erinnern. Die Stolpersteine, die heute verlegt werden, tragen ihre Namen und Lebensdaten. Dadurch kommen sie wieder zurück nach Nierstein, dadurch gehören sie wieder zu uns. Durch die Stolpersteine erinnern wir an:
Max Levy, Selma Levy, Anna Levy Oppenheimer, Ernst-Jakob Levy, Gustav Blum, Charlotte Blum, Robert Blum,
Josef Kaufmann, Fanny Kaufmann, Irma Regine Kaufmann, Frieda Kaufmann, Alice Amalie Kaufmann, Jenny Kaufmann, Else-Babette Kaufmann, Stella Kaufmann und Jakob Hirsch.

Meine Damen und Herren,
ich freue mich, dass sie alle gekommen sind, um sich mit uns der genannten ehemaligen Niersteiner Bürgerinnen und Bürger zu erinnern.

Mein Gruß gilt zunächst dem Künstler Gunter Demnig, der auch zur zweiten Verlegung von Stolpersteinen persönlich nach Nierstein gekommen ist. Ohne ihre künstlerische Idee gäbe es die Stolpersteine nicht, die das Gedenken zu einem großen Netzwerk in Deutschland und Europa gemacht hat.

Ich freue mich über die Anwesenheit von Vertreterinnen und Vertretern des öffentlichen Lebens. Ihre Anwesenheit betrachten wir als Würdigung und Unterstützung unserer Arbeit.
Herzlich begrüßen möchte ich namentlich:
Herrn Bundestagsabgeordneten Marcus Held, die Landtagsabgeordnete Katrin Anklam-Trapp, den Beigeordneten Neumer von der Verbandsgemeinde und den Beigeordneten Rüger von der Stadt, die Herren Fraktions-vorsitzenden Stapf und Gehring,
meinen Freund Horst Kasper aus Bodenheim, stellvertretend für alle, die sich andernorts um die Aktion Stolpersteine kümmern.
Entschuldigt haben sich die Landtags-abgeordneten Pia Schellhammer und Thomas Günther, zugleich als Stadtbürgermeister, Herr Bürgermeister Klaus Penzer und der Vorsitzende der Heimatfreunde am Mittelrhein, Adam Schmitt.

Die Verlegung von Stolpersteinen durch den Geschichtsverein ist in Nierstein zu einem echten bürgerschaftlichen Projekt geworden, zu dem verschiedene Beiträge geleistet wurden und immer neue geleistet werden, angefangen beim ersten Aufschlag durch den Antrag der Fraktion NEU im Gemeinderat, über die kontinuierliche Mitarbeit im Arbeitskreis, über die vielen Spenden bis hin zu den jüngst hinzugekommen und altersmäßig jüngsten Unterstützern, den heute beteiligten Schülerinnen und Schülern der Carl-Zuckmayer-Realschule.

Diese Schülerinnen und den Schüler, die an jeder Verlegestation ein Gedicht verlesen werden, möchte ich besonders begrüßen. Es sind aus der Klasse 8 e: Philip Engelhart und Annalena Müller, aus der Klasse 8 f: Alicja Acker, Janina Schütz und Lena Pohl und aus der Klasse 8 m: Lea Schneider, Lilli Schneider und Lisa Bender mit ihren Lehrerinnen Annette Herwig und Susanne Brandt.

Ich möchte allen danken, die die heutige Verlegung vorbereitet haben und daran mitwirken, namentlich meine Mitstreiter Dr. Susanne Bräckelmann, Johanna Stein, Hans Uwe Stapf und Matthias Hammes, die Ihnen bei den Verlegungen heute die Biografien der Opfer näherbringen.

Ebenso danken möchte ich der AZ für die publizistische Begleitung unserer Arbeit - nicht zuletzt durch die von uns inhaltlich gestaltete Serie über Niersteiner Opfer des Nationalsozialismus.

Meine Damen und Herren,
die Verfolgung ab 1933 war ein öffentlicher Prozess. Es war sichtbar wie die Lebenssituation, wie die Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten der Juden, politischer Gegner und anderer Verfolgter immer mehr eingeschränkt wurden. Niemand konnte es verborgen bleiben; es gab wenig Protest, wenig Hilfe für die Verfolgten. Anstand und Moral gingen verloren, die Nazis konnten schalten und walten.

Und so geschah es auch in Nierstein. Menschen versuchten ins Ausland zu gehen und zu entkommen - so wie die Levys, denen früher dieses Anwesen gehörte.
Andere wurden ganz früh aus dem Vereinsleben gedrängt, so wie Gustav Blum, für den nachher ein Stolperstein verlegt wird - er war bis zur Gleichschaltung Vorsitzender des Soldatenvereins Rhenania. Anderen misslang die Flucht - so wie dem Ehepaar Wolf, denen der NSDAP-Ortsgruppenleiter Bittel die Pässe verweigerte und die sich vor der Deportation das Leben nahmen.

Und so lassen Sie mich zum Schluss noch einmal auf den Sinn aller Erinnerungsarbeit - der oft schmerzlichen, weil von Schuld und Verantwortung gesprochen werden muss - zurückkommen. Haben wir den Mut zur Erinnerung. Elias Canetti sagte: Feige, wirklich feige ist nur, wer sich vor seinen Erinnerungen fürchtet. Unsere Aktion macht uns gemeinsam stärker und so wird Erinnerung auch eine Form der verbindenden Begegnung. Unser Erinnern braucht in der Gegenwart seinen Bezug. Deswegen müssen wir allen Angriffen auf die Menschenwürde entgegentreten. Haben wir den Mut dazu.

Durch unsere Arbeit retten wir vergessene Namen und verloren geglaubte Erinnerungen aus der Asche. "Wenn Du in der Zukunft lesen willst, musst Du in der Vergangenheit blättern." Deshalb verlegen wir "Stolpersteine", deshalb halten Gedenkrundgänge ab, deshalb organisieren wir Dokumentationsprojekte oder starten Initiativen, um die Opfer wieder in die Zusammenhänge ihres früheren Lebens zurückzubringen. Wir tun dies nicht, um sie wieder zum Leben zu erwecken, sondern um ihrer in Würde zu gedenken. Die belastete Vergangenheit bleibt. In der Erinnerung aber liegt das Geheimnis der Erlösung."

 

     
     
     
Nierstein, Mai 2014