Begrüßungsansprache von Hans-Peter Hexemer, Vorsitzender des Geschichtsvereins Nierstein,
anlässlich der Verlegung von Stolpersteinen
am 7. Juli 2015 in Nierstein

"Meine sehr verehrten Damen und Herren,

zur dritten Verlegung von Stolpersteinen sind wir heute zusammen gekommen. Mit diesen acht Stolpersteinen gedenken wir heute der Angehörigen der Familie Goldschmidt, die damals in den beiden Häusern in der Neugasse 7 und 9 lebten, die heute Glockengasse heißt. Die Goldschmidts wurden bedroht, bedrängt, gedemütigt, entrechtet und verfolgt, mussten ihre Anwesen verkaufen, aber sie konnten Deutschland verlassen, bevor die Deportationen von Juden begannen.

Die Goldschmidts konnten nach Amerika und nach Palästina auswandern - doch die Bindungen an Nierstein blieben. Ernst Goldschmidt, der hier geboren wurde und in Amerika lebte, besuchte 1985 seine Heimatstadt. Uzi Gadish, der Enkel von Wilhelm Goldschmidt und Sohn von Artur Goldschmidt, wurde im Nahen Osten geboren und lebt heute in Israel.

    Geschichtsverein Nierstein e.V.
Er besuchte schon öfter die Heimat seiner Vorfahren. Als wir uns zum ersten Mal trafen, hat mir Deine offene, unkomplizierte Art imponiert; es war eine herzliche Begegnung. Ich bin daher sehr glücklich, dass Du mit vielen weiteren Familienangehörigen heute bei uns bist und Ihr an der Verlegung der Gedenksteine teilnehmt. Das ist für uns alle eine große Freude. Die Mitglieder der Familie Goldschmidt/Gadish werden den ganzen Tag in Nierstein verbringen und wir werden Ihnen unsere Stadt, die Stadt ihrer Vorfahren, ein bisschen näher bringen und uns besser kennenlernen.

Wir stehen hier im Hof des Anwesens, das seinerzeit der Familie Goldschmidt gehörte, wo sie wohnten und ihren Viehhandel betrieben. Wo sie Freud und Leid erlebten, wo sie Niersteiner unter Niersteinern waren, bis die Nazis mit ihren verblendeten Ideen die Köpfe und die Herzen der Menschen verdrehten und vernebelten. Bevor die Nazis die Juden zu Volksfeinden stempelten und deren Verfolgung begann.

Bis heute bleiben die Fragen: Wie konnte es dazu kommen, dass der Wert des Lebens zur Zeit des Nationalsozialismus derart geringgeschätzt und vergessen werden konnte? Wie konnte es dazu kommen, dass Menschen aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Herkunft der Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt sein konnten, um sie letztendlich zu vernichten?

Es sind nicht enden wollende Fragen, die auch die Generationen der Nachgeborenen beschäftigen bis hin zu den Schülerinnen und Schülern der Carl-Zuckmayer-Realschule, die heute mitwirken. Es sind wichtige Fragen, damit die Zeit nicht vergessen wird und die Erinnerung nicht verblasst, damit den Opfern ihre Namen wiedergegeben werden und sie wieder in unsere Mitte zurückkehren. Damit wir wissen, was sich nicht wiederholen darf.

Meine Damen und Herren,
im Gedenken an die Opfer, als Mahnung und als Auftrag für unser Handeln in der Zukunft setzen wir die Stolpersteine. Es sind inzwischen 46, die an frühere Niersteiner erinnern. Wir nennen ihre Namen und ihre Schicksale. Heute kommen acht weitere hinzu.

Wir stehen damit auch dafür ein, dass der Antisemitismus bei uns keinen Raum hat und keinen Widerhall findet. Dass Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland eine Heimat haben und mit ihren Mitmenschen friedlich zusammenleben können. Hier bei uns und überall. Wir stehen für eine offene und tolerante Gesellschaft, wir wenden uns gegen Diskriminierung und Ausgrenzung. Flüchtlinge, verfolgte und notleidende Menschen sollen uns willkommen sein. Wir verurteilen jene, die Flüchtlinge bedrohen und Unterkünfte anstecken. Sie sind eine Schande für unser Land. Deshalb hat unser Gedenken und Erinnern einen konkreten Bezug zur Gegenwart und Zukunft.

Ich freue mich, dass heute früh so viele Menschen dieses Anliegen teilen und hier sind. Sie alle begrüße ich herzlich. Zunächst Gunter Demnig, den Kölner Künstler, der mit den Stolpersteinen eine Idee realisierte, mit der er auf besondere Weise gegen Gleichgültigkeit vorgeht. Seit 1996 ist er mit seinem Projekt, mit dem die Erinnerung an die Opfer auch in unseren Alltag eingebunden wird, europaweit unterwegs. Schön, dass Sie wieder bei uns sind. Über die Teilnahme von Alfred Wittstock freue ich mich. Er ist nicht nur Leiter der Studienstelle Israel an der Uni Mainz, sondern auch in der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Mainz aktiv und seine Familie hat Wurzeln in Nierstein. Herzlich grüße ich die Vertreter der Stadt, den Bürgermeister, die Beigeordneten, Stadträte und Mitglieder des Verbandsgemeinderates. Mein Gruß gilt den Mitgliedern des Geschichtsvereins Nierstein und unseres Arbeitskreises Stolpersteine und schließlich den Schülerinnen und Schülern der Carl-Zuckmayer-Realschule mit ihrer Lehrerin Frau Brandt.

Mit der Deportation der letzten jüdischen Einwohner 1943 endet die Geschichte jüdischen Lebens in Nierstein. Danach nahm die Verfolgung der Juden unvorstellbare Ausmaße an und endete in dem, was die Nazis "die Endlösung der Judenfrage" nannten, im Massenmord in Vernichtungslagern. Auch 70 Jahre nach der Befreiung der Lager, der Zeugnisse dieses Völkermords, ist es schwer zu verstehen. Sechs Millionen Juden sind dem staatlichen Vernichtungsapparat der Nationalsozialisten und seiner Anhänger zum Opfer gefallen. Wie kann man eine solch unfassbar große Zahl begreifbar machen?

Man kann Mahnmale errichten und Gedenkfeiern veranstalten. Aber dem Einzelschicksal, den Menschen hinter dieser Zahl, werden sie nicht gerecht. Schicksale von Menschen, die vielleicht einmal eine Straße nebenan gelebt haben oder sogar in dem Haus, das heute das eigene Zuhause ist.

Meine Damen und Herren,
diese Erinnerung und das Wachhalten sind gerade heute so besonders wichtig. Mit den Stolpersteinen hat der Künstler Gunter Demnig einen großartigen Weg gefunden, den Opfern ein Stück weit ihre Würde und ihre Namen zurückzugeben. Ein Stein für jeweils ein Opfer, das damals mitten unter uns gelebt hat; als Mitbürger oder Bekannter, als Nachbarin oder Freund.

Damit das an ihnen begangene Unrecht nie vergessen wird, wollen wir sie mit den Stolpersteinen in unser eigenes tägliches Leben integrieren. In Nierstein entstehen so kleine Denkmale für: Wilhelm Goldschmidt, Rosa Goldschmidt, Max Goldschmidt, Flora Goldschmidt, Ernst Goldschmidt, Karl Simon Goldschmidt, Berta Goldschmidt und Fanny Rosa Goldschmidt.

Die Stolpersteine, die heute verlegt werden, tragen ihre Namen und Lebensdaten. Dadurch kommen sie wieder zurück nach Nierstein. Die Erinnerung an sie soll uns wachsam bleiben lassen, damit wir uns gegen jedwedes Unrecht einsetzen und uns täglich für Gerechtigkeit und Menschlichkeit stark machen."

     
     

Nierstein, Juli 2015