Rundgang gegen das Vergessen
Die „Stolpersteine“ in Nierstein halten die Erinnerung an jüdische Mitbürger wach
Wolfgang Höpp

NIERSTEIN. „Ich bin vor einem Monat nach Nierstein gezogen und möchte gerne in die Geschichte der Stadt hineinschnuppern. Dabei bin ich auf die „Stolpersteine“ gestoßen, die bei mir Neugier, aber auch tiefe Betroffenheit ausgelöst haben“, sagt Sabine Fries bei einer Veranstaltung im Rahmen der Reihe „Kultur um 8“.

Johanna Stein, die dem Arbeitskreis „Stolpersteine“ des Geschichtsverein Nierstein angehört, führte geschichtlich Interessierte zu den im Straßenpflaster verlegten matt glänzenden Gedenksteinen, die sich unter anderem in der Rheinstraße, auf dem Marktplatz und im Tempelhof befinden.

Rheinstraße, Marktplatz und Tempelhof

Die „Stolpersteine“ wurden ab 2013 verlegt, um den misshandelten, vertriebenen und ermordeten jüdischen Familien aus Nierstein ein mahnendes Denkmal zu setzen und einen Namen zu geben. Hinter jedem dieser „Stolpersteine“ stehen Schicksale, die berühren und gleichermaßen sprachlos machen. Wie konnte das alles passieren? Es hat in den letzten Jahrhunderten im gesellschaftlichen Zusammenleben von Christen und Juden in Europa immer schon Verwerfungen gegeben, aber dramatisch wurde es in Deutschland für die Juden nach den „Nürnberger Gesetzen“ und der Reichspogromnacht am 8./9. November 1938.

    Geschichtsverein Nierstein e.V.
Die Judenverfolgungen lösten Konsequenzen aus, die in der Flucht ins Ausland, Selbstmord oder dem Tod in der Gaskammer tragisch endeten. Das Schuhgeschäft von Willy und Flora Wolf in der Rheinstraße 3 wurde Ende der Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts zwangsweise geschlossen, das Ehepaar ertränkte sich aus lauter Verzweiflung aneinandergekettet am 6. September 1942 schließlich im Mainzer Zollhafen.

In der Rheinstraße 12 besaß Heinrich Koch eine gutgehende Metzgerei, die auch bei Nichtjuden sehr beliebt war. Nach deren Zwangsschließung wurden er und seine Frau Frieda sowie zwei weitere Verwandte verschleppt. Sie starben 1942 im polnischen Piaski beziehungsweise Theresienstadt am 25. März 1943.

Dasselbe traurige Schicksal ereilten auch den Niersteiner Weinhändler Gustav Blum und seine Frau Charlotte in der Rheinstraße 23, die ebenfalls in der Gaskammer von Theresienstadt ermordet wurden. Nur sein Sohn Robert konnte 1939 in die USA fliehen. Ein Neubeginn im Ausland war vor allem denen möglich, die vorher schon Kontakte geknüpft und Geld dorthin transferiert hatten. Wer dann doch im „gelobten“ Land war, für den war es schwer, dort Fuß zu fassen, auch immer begleitet vom Heimweh nach Deutschland.

Nach dem beeindruckenden einstündigen Rundgang war eine emotionale Aufarbeitung des Gehörten und des dort Gesehenen unbedingt notwendig: „Wie konnte das alles nur geschehen?“, lautete die entscheidende Frage. Nach intensiver Diskussion zitierte Johanna Stein aus einer Dokumentation von Wolfgang Kemp über die Reichspogromnacht in Nierstein am 10. November 1938: „Die massiven Plünderungen gingen für die nationalsozialistischen Täter mit Verwarnungen und strengen Verweisen geradezu glimpflich aus“. Zwei Seiten aus dem 1928 erschienenen Buch „Mein Kampf“ las die Moderatorin zum Abschluss des aufschlussreichen und bewegenden Abends vor: Darin hatte Hitler die Juden auf das Schlimmste verunglimpft und seine spätere Vernichtungspolitik zu legitimieren versucht.

Das letzte Wort hat Johanna Stein: „70 Jahre Grundgesetz: Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ (Art. 1,1). Schauen wir auf die Stolpersteine und begreifen den Wert unserer Verfassung und spüren die Verpflichtung, die jeder von uns hat“.

     
     
Foto: hbz/Michael Bahr    
     

Nierstein, Juni 2019