Führung über den jüdischen Friedhof von Oppenheim

Vor 80 Jahren wurden am 9. und 10. November 1938 in ganz Deutschland jüdische Geschäfte, Wohnungen und Gotteshäuser von organisierten nationalsozialistischen Schlägertrupps zerstört. Hunderte von Menschen wurden gequält, gedemütigt, verhaftet, getötet oder in den Selbstmord getrieben. Auch in Nierstein hatte der Mob gewütet.

Zum Zeichen des Gedenkens an die Pogromnächte bot der Geschichtsverein in diesem Jahr eine Führung auf dem Oppenheimer Judenfriedhof an, auf dem seit je her auch die Mitglieder der jüdischen Gemeinde Niersteins begraben wurden.

Mehr als fünfzig Besucher konnte Vorstandsmitglied Susanne Bräckelmann bei bestem Wetter in Oppenheim begrüßen.

    Geschichtsverein Nierstein e.V.

Johanna Stein, Mitglied im Arbeitskreis „Stolpersteine“ des Geschichtsvereins Nierstein informierte zunächst über die Geschichte des Friedhofs. Die Grabsteine zeugen von der langen Tradition jüdischen Lebens in unserer Region, einer Tradition, die mit der Vertreibung und Ermordung der jüdischen Mitbürger grausam beendet wurde.

Der jüdische Friedhof im Oppenheimer Amselweg liegt versteckt zwischen der B 9 und der Bahnlinie. 1736 wird er erstmals erwähnt. 270 Steine aus zwei Jahrhunderten liegen dort. 1853 wurde ein Teil des Friedhofs für den Eisenbahnbau abgegeben, ein außerordentlicher Vorgang, für den keine Erklärung vorliegt.

Die letzte Beerdigung fand am 22. April 1933 statt. 1934 wurde der Friedhof durch Nazis zerstört. Der jüdische Weinhändler Karl Hertz, bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten ein angesehener Bürger der Stadt Oppenheim, wurde ertappt, als er die Zerstörung fotografierte.
Er wurde verhaftet und in das Stadtgefängnis gebracht. Er überlebte die Zeit des Nationalsozialismus nicht.

Nach dem Krieg bauten Mitarbeiter des Oppenheimer Bauhofs die Grabsteine wieder auf. Da sie nicht genau wussten, wo die Steine gestanden hatten, entschieden sie sich, alle in Reihen anzuordnen.
Weil ein Trupp unten und ein anderer oben angefangen hatten, trafen sich die Reihen nicht. Dadurch entstand eine Auflockerung, die ungewollt viel zum würdigen Gesamteindruck des Friedhofs beiträgt.

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Die meisten alten Grabsteine aus Sandstein sind stark verwittert, die hebräischen Inschriften selten noch lesbar. Die Steine besitzen einen halbrunden oder geschweiften Abschluss. Mit zunehmender Emanzipation der jüdischen Bürger gingen die Familien dazu über, zusätzlich die Rückseite in deutscher Sprache zu verfassen, bis dann alle Inschriften in Deutsch erschienen. Die Angehörigen wählten neue Formen und neues Material, rechteckige, kubische Formen aus schwarzem – selten rotem – polierten Granit. Der Geschmack der Grabsteingestaltung näherte sich sichtbar dem christlichen an. Auch Vornamen folgten teilweise der Mode der Zeit, wenn z.B. ein Siegmund auftaucht.
 
So legt der Friedhof Zeugnis ab für das Bemühen der jüdischen Gemeinde um Emanzipation, das heißt, vollwertige deutsche Mitbürger zu sein, ohne die jüdischen Wurzeln aufgeben zu müssen. Jüdische Friedhöfe besitzen eine besondere Atmosphäre, die sich bei einer Führung in einer Großgruppe nicht erspüren lässt. Deshalb verteilte Johanna Stein den Übersichtsplan über den Friedhof und eine Aufstellung Niersteiner Familien, deren Gräber vom 19. Jahrhundert an hier zu finden sind. Dabei fällt auf, dass die Familien sehr verstreut liegen. Das ist ungewöhnlich, ebenso wie die Reihung ungewöhnlich ist. Beides ist sicher auf die Zerstörung und den unsachgemäßen Aufbau zurückzuführen. Außerdem ist nicht mehr bekannt, ob die Grabsteine wieder vor dem Grab aufgestellt wurden, wie in jüdischer Tradition üblich oder dahinter, wie bei christlichen Begräbnissen.

Die Besucher konnten so in Muße den Friedhof in kleinen Gruppen oder für sich allein erkunden. Dabei ergaben sich etliche Fragen, die Johanna Stein zum Abschluss der Führung entgegennahm. Am häufigsten wurde die Frage nach den Symbolen auf den Grabsteinen gestellt. Die abgerundete Form der Grabsteine verweist auf die Gesetzestafeln, gut zu erkennen auf dem Doppelgrabstein der Eheleute Jacob und Sara Levy (siehe Foto). Segnende Hände kennzeichnen das Grab eines Angehörigen des Priestergeschlechts der Kohanim. Pflanzenmotive sind Symbole des ewigen Lebens. Akanthusblätter sind seit der Antike Symbole der Unsterblichkeit. Blumenkränze verweisen durch ihre Kreisform auf die Unendlichkeit und in Verbindung mit den Blumen auf die Hoffnung auf das Leben nach dem Tod.

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Fotos: Geschichtsverein Nierstein    
     

Nierstein, November 2018