„Das Wort ist eine Waffe“
Zum Internationalen Tag gegen Rassismus ein Gespräch mit Hans-Peter Hexemer.

Der Vorsitzende des Geschichtsverein Nierstein ruft zur Positionierung gegen Hass und Hetze auf.

GVN

Aus: Allgemeine Zeitung Mainz – Rheinhessen vom 20. März 2021

NIERSTEIN - Der 21. März ist der Internationale Tag gegen Rassismus. Er ist aber auch der Tag, an dem vor 76 Jahren, am 21. März 1945, eine grauenhafte Tat verübt wurde.

Als „Kornsandmorde“ ging das NS-Verbrechen in die Geschichtsbücher Niersteins ein; sechs Menschen wurden auf der gegenüberliegenden Rheinseite, im Treburer Kornsand, von fanatischen Nazis getötet.

Der Geschichtsvereinsvorsitzende Hans-Peter Hexemer, Jahrgang 1952, gehört zu dem Kreis von Menschen, die die Erinnerung an das abscheuliche Geschehen bis heute bewahren.

INTERVIEW:

Herr Hexemer, muss es einen „Tag gegen Rassismus“ heutzutage geben?

Es gibt allen Grund, heute aufmerksam zu sein. Rassismus ist mitten unter uns. Leider ist ein nicht zu unterschätzender Teil der Bevölkerung anfällig dafür. Am Stammtisch, in der Schule, im Alltag.

Und im Internet.

Das Wort ist eine Waffe, und die sozialen Medien sind die Waffenlieferanten. Sie sind voll von Hass- und Hetzreden. Es fängt damit an, dass Leute verbal bedroht und nicht in Schutz genommen werden.

Jetzt sprechen sie auf einen aktuellen Vorfall an – in einem rheinhessischen Dorf gab es ein anonymes Hassschreiben gegen eine Familie.

So etwas dürfen wir nicht zulassen. Den Mund halten und wegschauen, das geht nicht. Wir können solchen Menschen die Maske nur entreißen, indem wir öffentlich sagen: So etwas lassen wir nicht durchgehen. Und je mehr Leute sich bemerkbar machen und sagen, das ist nicht tolerierbar, desto weniger können die Täter ihr Geschäft der Angstmache und Einschüchterung betreiben.

Was passiert, wenn Menschen sich einschüchtern lassen, lieber wegschauen und mitlaufen, das wissen wir – aus unserer Vergangenheit.

Vieles konnte damals nur deshalb so passieren, weil keiner das Maul aufgemacht hat. Bis schließlich der „Adolf Nazi“ das Land in Schutt und Asche gelegt hat. Und selbst dann gab es noch Menschen, die andere ermordeten, das Kornsandverbrechen geschah, als der Krieg schon fast zu Ende war. Die Täter haben gewissenlos gehandelt, waren verroht, die Sitten verfallen. Und wenn wir nicht anfangen, uns früh gegen solche Strömungen zu wehren, ist es irgendwann zu spät. Erinnerungskultur ist kein Selbstzweck, sie hat auch einen aktuellen Sinn.

GVN Sie gehören zu denen, die alljährlich die Gedenkstunde zum Kornsandverbrechen vorbereiten. Wie oft hören Sie: Muss das noch sein? Ist es nicht endlich mal gut?

Das höre ich nicht oft, aber doch immer mal wieder. Und ich will jedem sagen: Für das, was war, trägt keiner von uns Verantwortung, wir waren nicht dabei. Aber für das, was wir heute machen oder lassen, in Erkenntnis von eben dem, was war – dafür sind wir verantwortlich. Und wenn wir gleichgültig bleiben, ist das so schlimm, wie wenn wir mitmachen.

Wo fangen Rassismus und Ausgrenzung an?

Beim Sprachgebrauch. Wenn pauschalisiert wird: Die Juden haben das und das gemacht, die Moslems, die Asylanten. Die Menschen sind nicht der Herkunft, Abstammung, Religion nach gut oder schlecht. Ob jemand ein Arschloch ist, entscheidet sich nicht an diesen Fragen, es entscheidet sich an seiner Haltung.

Nun ist es fast schon wieder salonfähig geworden, gewisse Ansichten zu pflegen.

Die Hetzer haben einen politischen Arm. Wer heute in der AfD ist oder sie wählt, weiß, was er tut und ist mitverantwortlich für Aussagen wie Gaulands „Vogelschiss“-Vergleich. Das verbale Aufheizen führt zu Halle, zu Hanau, dieser Wirkungszusammenhang ist für mich klar. Wer ihn leugnet, handelt verantwortungslos.

Wie geht die Jugend mit dem Thema Nationalsozialismus um?

Für viele ist junge Menschen diese Zeit so weit weg wie der Dreißigjährige Krieg. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass die Geschichte in die Gegenwart ragt. Hier hat Schule einen wichtigen Auftrag. Sie muss junge Menschen mit Fragen der deutschen Geschichte konfrontieren.

Wären Sie für Pflichtbesuche in einem KZ?

Die Konfrontation mit authentischen Orten ist ganz wichtig. Das muss nicht unbedingt Auschwitz sein. Ich möchte sagen: Schaut euch dort um, wo ihr lebt. Geht ans Mahnmal auf dem Kornsand. Seht euch die Stolpersteine an. Fahrt nach Osthofen, besucht die dortige KZ-Gedenkstätte.

Wann haben Sie zum ersten Mal ein KZ besucht?

Das war 1970 in Mauthausen, ich war 18 Jahre alt und relativ unvorbereitet auf das, was mich erwartete. Es war furchtbar beklemmend, so monströs, erschlagend. Aber eine solche Erfahrung ist etwas, das einen veranlasst, sich weiter zu informieren, nicht zu vergessen. Um es etwas abgedroschen mit Brecht zu sagen: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“

Kann sich auch eine ganze Stadt gegen Ausgrenzung und Hass positionieren?

Natürlich! Der Stadtrat Nierstein hat 2020 eine Resolution gegen Rassismus verabschiedet. Und der Kulturausschuss konkretisiert nun örtliches Handeln. Das finde ich positiv, denn Nierstein hat viele Möglichkeiten, sich zu Toleranz und Weltoffenheit zu bekennen.

Zum Beispiel?

Wenn unter dem Ortsschild ein weiteres Schild mit „Great Wine Capital“ angebracht werden kann, dann doch auch eines, auf dem steht: „Nierstein ist eine tolerante und weltoffene Stadt, in der Fremdenhass und Ausgrenzung keinen Platz haben.“ Das wäre doch was!

Das Interview führte Kirsten Strasser.

     
© Texte und Fotos – soweit nicht anders angegeben: Geschichtsverein Nierstein e.V.    
     

Nierstein, März 2021