Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus: Die Novemberpogrome in Nierstein 1938
Vortrag von Dr. Franz Maier im Niersteiner Rathaus

Detailliert wurden die Ereignisse der Novemberpogrome in Nierstein 1938 in der Vortragsveranstaltung des Geschichtsvereins nachgezeichnet.
Es wurde deutlich, dass es in Nierstein zu Verwüstungen und Plünderungen in jüdischen Anwesen gekommen war, allerdings kein Jude dabei körperlich angegriffen wurde.

Die Situation war jedoch so bedrohlich, dass Flora Wolf, begleitet von einer nichtjüdischen Angestellten, ihr Haus verließ und mit dem Zug zu Verwandten nach Bingen fuhr.

Das Haus der Familie Wolf in der Rheinstraße war der Ort, an dem die Ausschreitungen ihren Höhepunkt fanden.
Dort verwüsteten in Zivil auftretende SA-Leute nicht nur das Geschäft und die Wohnung, es kam auch zu Plünderungen.

    Geschichtsverein Nierstein e.V.
In den Kellern des Anwesens hielten sich einzelne Nazis an den Weinbeständen schadlos, ein zur Wache eingeteilter SA-Mann war so sturzbetrunken, dass er „seine Handlungsfähigkeit und freie Willensbestimmung“ total eingebüßt hatte. Das Verhalten einzelner NSDAP-Mitglieder und SA-Männer hatte schon unmittelbar ein Nachspiel. Insgesamt wurden 18 an den Ausschreitungen Beteiligte verhaftet und zunächst in Oppenheim festgesetzt. Ein öffentlicher Prozess wurde vermieden. Sie wurden 1939 von einem NSDAP-Parteigericht „bestraft“, etwa mit „Funktionsverboten“. Der Beigeordnete der Gemeinde Karl Hock musste allerdings im Dezember 1938 zurücktreten.
 
  Diese und viele weitere Vorgänge wurden im Vortrag von Dr. Franz Maier beim Geschichtsverein Nierstein dargestellt; wegen der Erkrankung Maiers trug Vorsitzender Hans-Peter Hexemer dessen Vortrag vor.
Diesen Ausführungen lauschten in der prall besetzten Riesling-Galerie des Rathauses mehr als 75 Zuhörerinnen und Zuhörer.

In seiner Einführung hatte Hexemer nicht nur der Opfer des Nationalsozialismus gedacht, sondern auch deutlich gemacht, dass Auschwitz und der Holocaust eine Vorgeschichte gehabt hätten, die in jedem Dorf und jeder Stadt begonnen habe.

Dies machten auch die Übergriffe und Ausschreitungen in Nierstein exemplarisch deutlich. „Nie wieder Auschwitz“ dürfe nicht zur Formel werden, sondern müsse für alle Verpflichtung bleiben.

Der Beigeordnete Tobias Bieker, der die Zuhörer im Namen der Stadt begrüßte, betonte, wie wichtig die Aufarbeitung der Ereignisse der nationalsozialistischen Diktatur und die Pflege der Erinnerung an die Opfer dieser Zeit sei.

Dass das NS-Regime 1938 ein großflächiges antijüdisches Pogrom beabsichtigte, zeigte sich unter anderem darin, dass die Finanzämter und die Gestapo schon Anfang des Jahres 1938 Verzeichnisse der vermögenden Juden und der jüdischen Gewerbebetriebe erstellten. Am 9. November 1938 gab Goebbels mit einer aufhetzenden Rede den Anstoß zu landesweiten antijüdischen Ausschreitungen. Der genaue Ablauf in Nierstein und Oppenheim konnte aus den noch erhaltenen und akribisch geführten Akten rekonstruiert werden. In Nierstein wohnten zu diesem Zeitpunkt noch 25 Juden. Früh am 10. November begannen sechs bis acht ortsfremde SA-Männer ihr Zerstörungswerk, das im Verlauf des Nachmittags die Metzgerei Koch-Hirsch, das Haus der Familie Kaufmann, das Kaufhaus von Adolf Feiner, das Haus des Viehhändlers Goldschmidt und das Manufakturwarengeschäft von Willibald Wolf betraf.

Die örtlichen Spitzen von Gemeinde und Partei hielten sich an diesem Tag lange zurück. Bürgermeister Fritz Strub war erkrankt, SA-Führer Dietewich im Feld, Ortgruppenführer Bittel erschien erst am Abend. Vor dem Anwesen Wolf in der Rheinstraße ließ er zunächst die Straße räumen, denn dort hatte sich eine riesige Menge von gaffenden Zuschauern versammelt, die dem Geschehen tatenlos zusahen.

„Nichtstun ist so schlimm wie mittun“ hatte Hans-Peter Hexemer eingangs aus Rolf Hochhuts „Der Stellvertreter“ zitiert. Für das Ehepaar Wolf, das sich 1942 das Leben nahm und für alle anderen Opfer, sind heute in Nierstein Stolpersteine verlegt.

Lange wollte sich niemand erinnern, weder die Täter noch die Zuschauer. So wurde auch die juristische Aufarbeitung nach 1945 schwierig. Einige Täter wurden in den Entnazifizierungsverfahren als „Belastete“ eingestuft, manche als „Minderbelastete“. Vor Gericht kam nur Ludwig Lerch, der den SA-Trupp aus auswärtigen Männern zu den jüdischen Häusern geführt hatte. 1948 zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt, war diese Strafe allerdings schon durch die längere Untersuchungshaft abgegolten.

Der komplette Vortrag von Dr. Franz Maier wird in den Niersteiner Geschichtsblättern 2019 veröffentlicht.

     
     
Fotos: Geschichtsverein Nierstein    
     

Nierstein, März 2019