Stolpersteine für Opfer der NS-Krankenmorde in Nierstein und Schwabsburg |
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Nach Stolpersteinverlegungen in den Jahren 2013, 2014, 2015 und 2019 für vertriebene und ermordete jüdische Familien und politisch Verfolgte hat der Geschichtsverein Nierstein nun gemeinsam mit Angehörigen die Lebensläufe zweier Opfer der NS-Krankenmorde recherchiert. Beiden Familien war es ein Anliegen, dass künftig an ihre ermordeten Vorfahren mithilfe eines Stolpersteines erinnert wird. Im Schatten des Weltkrieges lief im Deutschen Reich eine furchtbare Maschinerie an: Auf Grundlage eines „Führererlasses“, datiert auf den 1. September 1939, verübten die Nationalsozialisten die von ihnen „Euthanasie“ genannten Verbrechen in mehreren unterschiedlich organisierten Aktionen. Dabei wurden mehr als 200.000 psychisch kranke und geistig behinderte Menschen in psychiatrischen Anstalten getötet – ein systematischer Massenmord, der nicht irgendwo weit weg in Osteuropa stattfand, sondern gewissermaßen vor der eigenen Haustür, und der gleichzeitig der Ermordung der europäischen Juden den Weg ebnete. |
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Nach Erkenntnissen des Geschichtsverein Nierstein befanden sich mindestens 24 Menschen aus Nierstein und Schwabsburg während der NS-Zeit in verschiedenen psychiatrischen Anstalten. Sechs von ihnen wurden nachweislich im Zuge der „Aktion T4“ zwischen Januar und August 1941 in Hadamar ermordet. Wahrscheinlich weitere fünf Männer und Frauen wurden im Rahmen der sogenannten „dezentralen Euthanasie“ ab 1941 an unterschiedlichen Orten getötet. Zwei kleine Jungen fielen der sogenannten „Kinder-Euthanasie“ auf dem Eichberg zum Opfer. Sieben Anstaltspatientinnen und -patienten überlebten aus verschiedenen Gründen die Verfolgung. Angeleitet von Vorstandsmitglied Jörg Adrian setzen sich derzeit Konfirmandinnen und Konfirmanden der Evangelischen Kirchengemeinden in Nierstein und Schwabsburg mit den Biographien zweier Opfer dieser Krankenmorde auseinander. Sie werten Eintragungen im Geburtsregister ebenso aus wie einzelne Blätter aus den noch kurz vor der Verlegung in die Tötungsanstalt Hadamar angelegten Krankenakten. Sie beschäftigen sich darüber hinaus mit der menschenverachtenden Ideologie der Nationalsozialisten, namentlich mit ihren rassenhygienischen Vorstellungen von „wertvollen“ und „minderwertigen“ Menschen, die zur Vernichtung vermeintlich „lebensunwerten Lebens“ führte. „Und die jungen Leute nutzen die Gelegenheit, mit Angehörigen der Ermordeten über deren Motivation zur Aufarbeitung und Erinnerung zu sprechen. Eine wertvolle Erfahrung für alle Beteiligten.“, so Jörg Adrian. |
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In dem Projekt erarbeiten die Jugendlichen begleitende Texte zum Gedenken, die anlässlich der Stolpersteinverlegung im kommenden Frühjahr vorgetragen werden sollen. Zugleich bereiten sie eine Präsentation ihrer Arbeitsergebnisse für das Projekt „Gewalt hat eine Geschichte“ des Jugendhauses Oppenheim vor. Dort dürfen sie im November das Thema der NS-Krankenmorde anderen Jugendlichen vorstellen. Erstmals wird in Nierstein der Opfer von national-sozialistischen Medizinverbrechen gedacht werden. Für Schwabsburg ist es der erste Stolperstein überhaupt. Es sollen nicht die letzten bleiben. „In manchen Familien besteht eine vage Ahnung, dass Vorfahren betroffen gewesen sein könnten, manche wissen es und konnten oder wollen bis heute nicht darüber sprechen. Es bleibt ein schwieriges Thema.“, sagt Hans-Peter Hexemer, Vorsitzender des Geschichtsvereins. Deshalb ist die Zusammenarbeit mit betroffenen Familien wichtig. Der Geschichtsverein Nierstein unterstützt diese gerne bei der Recherche zu ihren Angehörigen und bereitet, sofern dies gewünscht ist, die Verlegung weiterer Stolpersteine vor. Schließlich soll der Verfolgten auch in einer umfangreichen Dokumentation der Niersteiner und Schwabsburger Stolpersteine gedacht werden. |
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Zu den Bildern: Vorbereitung für die neuen Stolpersteine, die im nächsten April verlegt werden sollen. Es ist sehr schön, dass wir die Konfirmanden miteinbeziehen konnten. Fotos: Stefan Sämmer |
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Nierstein, Oktober 2024 |