Ein Leben auf dem Rhein
Lesung: Biografie von Niersteinerin Gertrud Winter lässt das vorige Jahrhundert wiederauferstehen
Von Wolfgang Höpp

1275 Jahre Nierstein, 20 Jahre Geschichtsverein: Zwei gute Gründe für den Geschichtsverein, mit einer Veranstaltungsreihe einige besondere Aspekte der Niersteiner Stadtgeschichte aufzuzeigen. Die Reise durch das Jubiläumsjahr beginnt mit einem Gespräch mit Gertrud Winter und einer Lesung aus ihrer 2016 erschienenen Biografie „Lebet wohl, ihr engen, staub’gen Gassen – aus dem Leben einer Rheinschiffer-Familie“, dargeboten von ihrer Tochter Julia Arbeiter.

Der Erste Vorsitzende des Geschichtsvereins, Hans-Peter Hexemer, kann rund 80 Zuhörer im Niersteiner Weingut Louis Guntrum willkommen heißen, die in knapp zwei Stunden das abwechslungsreiche und spannende Leben einer Schifferfamilie zwischen Krieg und Frieden, Armut und Wirtschaftswunder erleben dürfen. Der Vater von Gertrud Winter, Philipp Vowinkel, wurde 1904 in Nierstein geboren und wuchs in wirtschaftlich schwierigen Zeiten auf. Inflation, Armut und Hunger waren seine ständigen Begleiter. Er musste widerwillig als überzeugter Sozialdemokrat das Unrechtsregime des Dritten Reichs ertragen.

1932 lernte Philipp seine große Liebe Anna kennen, und beide beabsichtigten zu heiraten. Da der Hochzeitswunsch aber von ihren Müttern abgelehnt wurde, beschlossen sie 1936 heimlich den Bund fürs Leben einzugehen. Da Vowinkel bereits 1935 auf dem Schleppkahn „Argo“ angeheuert hatte, folgte Anna direkt nach der Hochzeit ihrem Mann auf das unmotorisierte Schiff. Hauptsächlich war das junge Paar auf dem Rhein zwischen Rotterdam und Basel unterwegs.

Diese Zeit auf und mit dem Wasser war trotz des Krieges der „schönste Frühling und Sommer ihres Lebens“. Aber bald holte sie die harte Realität wieder ein. Ihr Schiff lag am 27. Februar 1945 in Mainz vor Anker, als britische und amerikanische Bomberverbände die Stadt in Schutt und Asche legten. Dieses Ereignis war für sie das Fanal für Aufbruch, für Neubeginn.

1947 erblickte die Autorin als Gertrud Vowinkel in Nierstein das Licht der Welt und wuchs mit ihren Geschwistern Else, Eva und Philipp auf dem Schiff auf, bis die vier Kinder wegen der Ausbildung 1952 mit ihrer Mutter Anna ein kleines Haus in der 350-Seelen-Gemeinde Ludwigshöhe bezogen. Dort ging Gertrud zur Schule, wo die Linkshänderin vom Lehrer gezwungen wurde, mit der rechten Hand zu schreiben.

Dort erlebte die Heranwachsende auch die sexuelle Verschrobenheit der Erzieher: Kein Tanzkurs für Mädchen, lautete die Devise damals, „denn sie könnten allein schon bei dem Gedanken daran schwanger werden“. Die Jahre vergingen wie im Fluge, und Gertrud besuchte schließlich als Schneidermeisterin 1969 einen Fortbildungskurs in München. Dort lernte sie einen jungen Mann kennen, der sich bei ihrem ersten Rendezvous Gertruds Goldkettchen spaßeshalber um seinen Arm legte. Gertrud vermisste nach seiner Verabschiedung das schmückende Accessoire sofort und dachte, „der wird doch wohl nicht?“... Bis beim zweiten Treffen ein Taxi mit einem strahlenden Ulf Winter und dem Goldkettchen in seiner Hand vorfuhr ...

Damit endet schließlich die Lesung, und alles Weitere ist in der Biografie von Gertrud Winter nachzulesen, die im „Oppenheimer Buchladen“ von Monika Kuchenbecker zum Preis von 14,99 Euro käuflich erworben werden kann.

 

 

Julia Arbeiter las aus der Biographie ihrer Mutter vor.

Fotos: Geschichtsverein Nierstein

   

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Hans-Peter Hexemer, Gertrud Winter und Julia Arbeiter (v.l.)

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Vollbesetzt war die Weinstube im Weingut Guntrum.

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Nierstein, 21. April 2017