Ansprache von Hans-Peter Hexemer, 1. Vorsitzender des Geschichtsverein Nierstein,
bei der Verlegung des Stolpersteins für Josefine Zeller
am 20. Juni 2019 in Nierstein

"Seien Sie alle sehr herzlich begrüßt zur Verlegung des 55. Stolpersteins im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus in Nierstein.

Seit 2013 erinnert der Geschichtsverein auf diese Weise an die verfolgten und ermordeten Menschen aus unserer Stadt und ruft der Öffentlichkeit deren Schicksal in Erinnerung.

Stolpersteine sind eine augenfällige Erinnerung und ich erlebe es immer wieder wie Menschen an diesen Steinen stehen bleiben, die Texte lesen und innehalten. Das ist gut so, denn das Vergangene reicht in die Gegenwart.

Es reicht in die Gegenwart, wenn Juden in Deutschland beschimpft und bedroht werden, wenn manche deshalb keine Kippa mehr tragen.

    Geschichtsverein Nierstein e.V.
Wenn Antisemitismus nicht nur ein Problem extremer Rechter ist, sondern diese dumme Gesinnung sich weiter ausbreitet, in die Gegenwart reicht, Minderheiten zu Sündenböcken zu machen, ebenso wie Hass und Morddrohungen in den sogenannten sozialen Medien, die anonym solchen Aussagen Tür und Tor öffnen. Und es reicht ins heute, wenn danach rechtsextreme Gewalttäter Repräsentanten des Staates und der Demokratie bedrohen oder wie aktuell Walter Lübke ermorden. Dass wir hier zusammen sind, ist ein öffentliches Bekenntnis gegen Ausgrenzung, Hass und Gewalt.

An diesem Platz, den Vorgängergebäuden, den in Nierstein nur Barracken genannten Holzhäusern, die bis zur Errichtung dieses Hauses hier standen, hier also in der Ringstraße 19, wurden bereits 2013 zwei Stolpersteine verlegt, die an Johann und Cerry Eller erinnern. Beide Opfer der Kornsandmorde 1945.

Cerry, eine geborene Hirsch, jüdischen Glaubens, war in erster Ehe mit Adolf David Abraham Zeller, ebenfalls Jude, verheiratet. Sie hatten zwei Kinder Hans (Hennes) und Josefine. Hans soll nach Angaben aus der Familie in Selzen Metzger gelernt haben, im Zweiten Weltkrieg in einem Strafbattalion gewesen und gefallen sein. Mit Dokumenten belegt ist dies bisher nicht.

Von den Kindern Cerry und Johann Ellers lebt niemand mehr; allerdings sind heute Enkel unter uns: Gertrud Weber und Peter Eller, die ich herzlich begrüße. In Cerry Eller haben diese Enkel die Großmutter, die zugleich die Mutter von Josefine Zeller war. An dieser Stelle begrüße ich auch Jochen Schmitt, den neugewählten Bürgermeister Niersteins. Ich betrachte es als ermutigendes Zeichen, dass Du noch vor dem offiziellen Amtsantritt an der Verlegung teilnimmst.

Heute sind wir zusammengekommen, um Josefine Zellers zu gedenken und uns an ihr Leben und Schicksal zu erinnern, das am 26. März 1942 in der Tötungsanstalt Bernburg an der Saale endete. Josefine lebte mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater hier in der Ringstraße 19. Sie hatte einen 1936 geborenen Sohn, Karl-Heinz, der bei Verwandten groß wurde. Josefine selbst wurde 1938 in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück eingeliefert. Sie war auf jeden Fall als Jüdin interniert, ob es weitere Gründe gab, darüber kann nur spekuliert werden. Vielleicht war sie einfach nur ein bisschen anders als andere, was der Staat nicht duldete, weil es nicht ins Schema passte und so denken wir an einen Satz von Anne Frank, die vor wenigen Tagen 90 Jahre alt geworden wäre: „Lasst mich ich selbst sein.“

Das KZ Ravensbrück war das größte Konzentrationslager für Frauen im sogenannten deutschen Altreich zur Nazi-Zeit. Es wurde 1938 durch die Schutzstaffel (SS) in der Gemeinde Ravensbrück (heute Stadt Fürstenberg/Havel) im Norden der Provinz Brandenburg errichtet.
Gemeinsam mit dem in unmittelbarer Nachbarschaft liegenden Männerlager, Industriebetrieben, dem KZ Uckermark für Mädchen und junge Frauen und dem Siemenslager Ravensbrück bildete das KZ Ravensbrück einen Lagerkomplex. Darüber hinaus existierte eine Vielzahl von Außenlagern.
Die Auflösung des Konzentrationslagers sowie die Befreiung der verbliebenen Häftlinge durch die Rote Armee erfolgten im April 1945. Insgesamt waren etwa 132.000 Frauen und Kinder, 20.000 Männer und 1.000 weibliche Jugendliche aus 40 Nationen und Volksgruppen im KZ Ravensbrück und im KZ Uckermark interniert. Man geht davon aus, dass 28.000 Häftlinge in Ravensbrück ums Leben gekommen sind.

Im Jahre 1942 begann die erste Phase der sogenannten Aktion 14f13, in der Sprache des Nationalsozialismus auch als „Sonderbehandlung 14f13“ bezeichnet. Sie betraf die Selektion und Tötung von als „krank“, „alt“ und „nicht mehr arbeitsfähig“ betitelten KZ-Häftlingen im Deutschen Reich und dauerte bis 1944. Sie wurde auch als „Invaliden- oder Häftlings-Euthanasie“ bezeichnet und wurde später noch auf weitere in den Konzentrationslagern internierte Personengruppen ausgeweitet. Nur zum Zweck der Tötung durch Gas wurden die Opfer dann in eine von drei Anstalten gebracht. Im Falle von Josefine Zeller nach Bernburg an der Saale. Der Verlegungstermin und der Sterbetag – beides von den Tätern sorgfältig beurkundet – sind ein und derselbe Tag. Um die Ermordung im Gas allerdings zu verschleiern wurde die Sterbeurkunde von Standesamt KZ Ravensbrück ausgestellt und das KZ als Sterbeort angegeben. Die Mitarbeiterinnen in den Gedenkstätten halten diesen Ablauf für den wahrscheinlichsten. Deshalb haben wir uns, auch in Abstimmung mit Gunter Demnig, für die Formulierung auf dem Stolperstein entschieden. Der sogenannten “Aussonderung” ging regelmässig eine ärztliche Begutachtung voraus. Allerdings fehlen bei Josefine Zeller diese Unterlagen, wie viele andere in Ravensbrück, weil sie vernichtet wurden.

Was den Angehörigen zudem zugemutet wurde, möchte ich Ihnen nicht vorenthalten. In den Dokumenten befindet sich – in Abschrift – ein Brief der Geheimen Staatspolizei Darmstadt vom 3. April 1942 an den Niersteiner Bürgermeister als Ortspolizeibehörde. Darin wird mitgeteilt, dass Josefine Zeller am 26. März 1942 in Ravensbrück verstorben sei und weiter heißt es: “Ich ersuche, die Mutter Ceri Eller, Nierstein, Ringstraße 19, vom Ableben der Z. zu verständigen und ihr bekannt zu machen, dass die Leiche auf Staatskosten eingeäschert wird. Eine Besichtigung der Leiche ist aus hygienischen Gründen nicht möglich. Die Urne kann von der Kommandantur des KL. Ravensbrück zur Überführung schriftlich angefordert werden. Eine Bescheinigung der in Frage kommenden Friedhofsverwaltung darüber, daß eine Stelle für die Urnenbeisetzung vorhanden ist, ist der Kommandantur mit dem Überführungsantrag einzureichen. Geschieht dies innerhalb von 10 Tagen nicht, wird die Urne von Amts wegen im Urnenhain kostenlos beigesetzt.” Im Archiv der Stadt Nierstein ist ein Brief vom 27. April 1951 an das Internationale Rote Kreuz vorhanden, in dem der damalige Bürgermeister Gustav Strub mitteilt, er könne keine Sterbeurkunde ausstellen, weil der Tod seinerzeit in Ravensbrück beurkundet worden sei. Der Fall müsse also im nun zuständigen Amt in Arolsen beurkundet werden. Mit der beglaubigten Abschrift der zitierten Mitteilung der Geheimen Staatspolizei könne dies geschehen. Und weiter schreibt Strub: “Trotz wiederholter Aufforderung der hier wohnhaften Angehörigen (dabei sind gewiss die Stiefgeschwister gemeint) ist ein entsprechender Antrag bei mir bis heute nicht gestellt worden.” Tatsächlich datiert eine Neuausfertigung der Sterbeurkunde – ausgestellt in Fürstenberg (damals DDR) vom 26. Juni 1951.

Wenn wir uns dieses Schicksal vor Augen halten und sehen wie viele Stellen, an wie vielen Orten, wie viele Menschen daran mitgewirkt haben, können wir dann wirklich verstehen, dass so viele nichts gewusst haben wollen. Wir sehen, dass hier bei uns in Nierstein, die junge Frau ausgegrenzt, gedemütigt und entrechtet wurde, bevor sie ins Lager kam. Wir sehen wie im Lager Aufseher, Bürokraten und Ärzte an der Verfolgung beteiligt waren. Wir sehen wie in der Heilanstalt Bernburg Pflege- und Betreuungspersonen zu Mördern wurden. Wir sehen zugleich die fortwährende bürokratische Abrikbie, mit der vor und nach 1945 gearbeitet wurde. Ich zitiere wie in der Einladung zu dieser Veranstaltung Christa Wolf: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“

Danken möchte ich vielen, die uns geholfen haben, dem Leben und dem Verfolgungsschicksal von Josefine Zeller auf die Spur zu kommen, die uns mit Hinweisen und Dokumenten unterstützt haben. Besonders möchte ich der verstorbenen Frau Katharina Seibert danken, die hier um die Ecke in der Elisabethenstraße wohnte. Die betagte Dame erzählte uns im August 2013 im Anschluss an die erste Stolpersteinverlegung ihre Erinnerungen an jüdische Familien in Nierstein und machte noch einmal auf die Tochter von Cerry Eller aufmerksam. Sie könne sich erinnern, wie sie mit den Ellers in der Ringstraße gelebt habe. „Das Finchen ist in Auschwitz umgebracht worden.“, sagte Frau Seibert. Diese Erinnerungen waren der Auslöser, erneut intensiv zu recherchieren. Jetzt kennen wir mehr Details ihres Lebens und ihrer Verfolgung. Aufgrund dessen können wir heute den Stolperstein an diesem Platz, ihren letzten frei gewählten Wohnort, verlegen. Und wir können uns fortdauernd an sie erinnern.

Wir dürfen und wir können das Vergangene nicht abtrennen, uns nicht fremd stellen. Was wir heute an neuem, alten rechten Gedankengut, an Hetze, Hass und Gewalt erleben, an Ausgrenzung und Intoleranz – das ist gegenwärtig und es ist widerwärtig. Haben die Menschen so wenig aus der Geschichte gelernt? Jedem, der die Lektion nicht gelernt hat, müssen wir entgegentreten. Das ist eine fortwährende Aufgabe, die unsere Aufmerksamkeit, die Mut und Handeln erfordert. Denn: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.“

     
     

Nierstein, Juni 2016