Ansprache von GVN Vorstandsmitglied Dr. Joachim Allmann, zuständig für Gedenk- und Erinnerungsarbeit, AK Stolpersteine, beim Stolperstein-Rundgang am 09.11.2019 in Nierstein

"Im Namen des Geschichtsvereins begrüße ich alle diejenigen, die sich hier versammelt haben, um der Opfer der Reichspogromnacht zu gedenken und am Rundgang durch Nierstein auf den Spuren jüdischen Lebens teilzunehmen.

Den Referenten und Referentinnen, die uns gleich vor Häusern in der Oberdorfstraße, der Glockengasse und der Rheinstraße über die Schicksale der jüdischen Mitmenschen, die in diesen Häusern gelebt und gearbeitet haben, berichten werden, danke ich, auch im Namen Hans-Peter Hexemers, der heute leider nicht anwesend sein kann.
Ich darf mich kurz vorstellen. Ich heiße Joachim Allmann und bin seit Anfang des Jahres im Vorstand des Geschichtsvereins für Erinnerungs- und Gedenkarbeit verantwortlich.

    Geschichtsverein Nierstein e.V.
Angesicht der aktuellen Ereignisse, dem Anschlag auf die Synagoge in Halle, der zunehmenden Gewaltbereitschaft rechter Kräfte, der gedanklichen und sprachlichen Enttabuisierung, die in Wort und Schrift greifbar ist, und der Tatsache, dass jüdische Mitbürger über all das nicht überrascht sind, müssen wir uns fragen, ob Erinnerungs- und Gedenkarbeit genug ist, oder ob die Gesellschaft und jeder einzelne von uns, nicht viel mehr tun muss, um der weiteren Ausbreitung des Antisemitismus Einhalt zu gebieten?

Selbstverständlich müssen wir, jeder einzelne von uns, mehr tun!

Mehr tun müssen auch die Sicherheitskräfte, die Justiz, die Gesetzgebung, die Kirchen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, Länder, Städte, Sportverbände, Bildungseinrichtungen, Medien, der Kulturbetrieb usw. Lichterketten und Mahnwachen sind allenfalls freundlich gemeinte Gesten, die das gute Gefühl vermitteln, auf der richtigen Seite zu stehen.

Mich haben im Oktober mehrere Beiträge in verschiedenen Zeitungen sehr getroffen. Ohne auf die Autoren und Artikel einzeln einzugehen, möchte ich doch einige Aussagen aufgreifen.

„Seit Jahren warnen wir Juden vor den Entwicklungen. Und niemand hört uns zu. Wir warnen davor, dass der Antisemitismus längst wieder salonfähig geworden ist … der „Antisemitismus ist längst wieder in der Mitte der Gesellschaft, nein, nicht ‚angekommen‘, denn er war ja nie weg“.

Dies sollte uns zu denken geben. Mahnwachen, Mitleids- Problembewusstseinsbekundungen reichen nicht aus. Das Bewusstsein dafür, was Antisemitismus ist, muss geschärft, die Sensibilität dafür muss feiner werden, die Solidarität mit denen, die in diesem Lande heute wieder unmittelbar bedroht sind, muss zunehmen.

Wir müssen uns endlich von einem Mythos der bundesrepublikanischen Geschichte verabschieden: Die sogenannte Vergangenheitsbewältigung hat eben nicht stattgefunden, Antisemitismus blieb und ist in den Köpfen vieler fest verankert.
Und fest verankert ist der Antisemitismus nicht nur in einer bildungsfernen Unterschicht.

Die Ergebnisse einer aktuellen, vom World Jewish Congress (WJC), in Auftrag gegebenen Studie zum deutschen Antisemitismus, sind erschreckend:

  • Mehr als ein Viertel aller Deutschen und fast ein Fünftel der deutschen Eliten sind antisemitisch eingestellt.
  • Fast 30% der deutschen Eliten vertreten die Meinung, Juden hätten im Wirtschaftsleben und global zu viel Macht.
  • Beinahe 30 % der Eliten glauben, Juden seine Israel gegenüber loyaler eingestellt als gegenüber Deutschland.

Diese schlimmen Zahlen unterstreichen das, was eine Journalistin in der Süddeutschen Zeitung schrieb, sie "kenne ein Deutschland ohne Judenhass nicht".
Sie hält auch den öffentlich geäußerten Wunsch nach einem „Nie wieder“ für lächerlich, weil „er die Tatsache ausblendet, dass dieser Hass unter uns brodelt und lebt, naiv ausblendet.“ Und in diesem Zusammenhang kommt sie zu folgender, eminent wichtigen Aussage:

„Der Anschlag in Halle war die Tat eines Einzeltäters, aber nicht die Tat eines Einzeldenkers.“

Lassen Sie uns darüber nachdenken und begreifen, was unsere Mitbürger jüdischen Glaubens fühlen, die sich in Deutschland nicht mehr wagen, jüdische Symbole in der Öffentlichkeit zu tragen oder in die Synagoge zu gehen, die in der Öffentlichkeit angegriffen oder bedroht werden.

Und ich betone, es sind nicht abstrakt „die Juden“, von denen wir sprechen, es sind Deutsche jüdischen Glaubens. Die Unterscheidung zwischen „Deutschen“ und „Juden“ halte ich für sich genommen bereits für eine Ausgrenzung. Wir müssen uns darüber klar werden, wie sehr die Freiheit all jener eingeschränkt wird, die sich überlegen müssen, ob es ein Risiko darstellt, in der Öffentlichkeit Hebräisch zu sprechen, und die nicht wissen, welcher Weg zur Synagoge sicherer ist als der andere. Und was bedeutet es für Kinder, täglich Sicherheitsschleusen passieren zu müssen?

Handelt es sich bei all dem nicht tatsächlich um eine Art von Freiheitsberaubung? Und wie demütigend ist es, das Leben an derartigen Fragen ausrichten zu müssen!

Ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, in dem Antisemitismus keinen Platz hat, muss unser gemeinsames Ziel sein!

Im Zusammenhang mit dem Anschlag von Halle und einem versuchten Anschlag auf die neue Synagoge in Berlin schreibt ein anderer jüdischer Autor unter der Überschrift „Tut nicht so geschockt“ von seinen Gedanken, Ängsten, Empfindungen, zerstobenen Hoffnungen und formuliert u. a. sehr klar: „Jahrelang haben wir die Situation der Juden in Deutschland unter den Teppich gekehrt. Es ist Zeit, dass Regierung, Politik, Organisationen, jeder einzelne sich um seinen eigenen Teppich kümmert.“

Wir müssen häufiger und lauter die Dinge beim Namen nennen, wir benötigen mehr Zivilcourage, mehr gelebte Solidarität, und müssen begreifen, dass Antisemitismus keineswegs nur eine kleine Minderheit betrifft, was ebenso für die Verunglimpfung des Islam, von Asylanten oder Deutschen mit Migrationshintergrund oder anderer Gruppen gilt. Vielleicht hilft es zum Verständnis, wenn wir uns klar machen, jeder von uns allen ist auf irgendeine Weise Teil einer wie auch immer definierten Minderheit.

Die Angriffe zielen auf uns alle, auf jeden von uns, weil die Grundlagen unserer freiheitlichen, demokratischen und offenen Gesellschaft zerstört werden sollen. Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus gefährden unser Zusammenleben und den gesellschaftlichen Frieden.

Zum Schluss möchte auf die Ausstellung, „Kunst trotz(t) Ausgrenzung“, die noch bis zum 15.12.2019 in Osthofen zu sehen ist, aufmerksam machen. Sie „ist Teil eines Projektes zur Demokratieförderung in Deutschland“, das von der Diakonie Deutschland durchgeführt wird. Diese Wanderausstellung ist „eine künstlerische Absage an Fremdenfeindlichkeit und Rechtspopulismus, an Ideologien von angeblicher Ungleichheit und Ungleichwertigkeit von Menschen.“

 

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit."

 

     
     

Nierstein, 09. November 2019