Gedenken und erinnern – was wollen wir in Zukunft weitergeben? |
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Als der Volkstrauertag vor mehr als hundert Jahren ins Leben gerufen und erstmals im März 1922 begangen wurde, stand im Mittelpunkt die Trauer um die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Leitgedanke war die Solidarität derer, die keinen Verlust erlitten hatten, mit denen, die den Tod ihrer Väter, Brüder, Söhne in Verdun und an der Somme, in Polen und der Ukraine, in den Tiroler Alpen und auf dem Balkan, in den Kolonien und auf hoher See beweinten: Millionen Tote in einem verlorenen Krieg und einem sinnlos gewordenen Sterben, Millionen trauernde Hinterbliebene – und alle zusammen eine irgendwie verlorene Generation. Der 1919 gegründete Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hatte einen säkularen Gedenktag empfohlen, der anders als die kirchlichen Trauertage nicht im Spätjahr, sondern im Frühling liegen sollte. Bei der Feierstunde in Berlin erklärte Reichstagspräsident Paul Löbe: „Leiden zu lindern, Wunden zu heilen, aber auch Tote zu ehren, Verlorene zu beklagen, bedeutet Abkehr vom Hass, bedeutet Hinkehr zur Liebe, und unsere Welt hat die Liebe not [...]“. Schon in den folgenden Jahren wurde der Volkstrauertag jedoch zunehmend von martialischer Rhetorik geprägt, wurde die Botschaft von Verständigung und Versöhnung in der gemeinsamen Trauer über den Gräbern von militärischem Pomp und nationalistischer Mythenbildung überlagert. Als den Nationalsozialisten die Macht im Staat übertragen wurde, dauerte es nur ein Jahr, bis sie auch den Volkstrauertag vereinnahmten, zum nationalen „Heldengedenktag“ umwidmeten und als Staatsfeiertag deklarierten, an dem die Menschen auch auf den bevorstehenden Opfergang eingeschworen wurden. An die Stelle der Trauer um die Toten trat die Pflicht zum heroischen Sterben – welche Perversion! Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Volkstrauertag erstmals 1950 wieder begangen und nun fest im November verankert. Anfangs stand ausschließlich die Trauer um die gefallenen Soldaten des jüngsten Weltkriegs im Zentrum, erst allmählich weitete sich der Blick auf andere: So wurde vor siebzig Jahren, anlässlich des Volkstrauertags im November 1954, auf dem Kornsand der Gedenkstein für Georg Eberhard, Nikolaus Lerch, Jakob Schuch, Johann und Cerry Eller sowie Rudolf Gruber enthüllt, die noch bei Kriegsende von fanatischen Nationalsozialisten ermordet worden waren. Eine vergleichsweise frühe Erinnerung an Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen, für die es andernorts häufig noch Jahrzehnte brauchen sollte. Die Gedenktafel für die vielfältigen „Opfer von Tyrannei und Krieg“ hier am Ehrenmal, die gleichsam in einem Atemzug die „Entrechteten, Gefallenen, Verfolgten, Vermissten, Ermordeten, Vertriebenen“, zuletzt die „Opfer der Bomben“ benennt, wurde erst dreißig Jahre später, zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985, angebracht. Überhaupt wurde erst nach und nach der Kreis größer gezogen: nach dem Mauerbau 1961 zunächst um diejenigen, die bei der Überwindung der innerdeutschen Grenze ihr Leben ließen – Opfer einer neuen Diktatur in einem Teil Deutschlands. Mittlerweile umfasst er auch getötete Einsatzkräfte, Opfer von rassistischen und antisemitischen Gewalttaten unserer Tage. Wovon erzählten sie? Woran erinnerten sie sich? Wessen wollten sie sich hier vergewissern? Einer unserer Nachbarn war erst nach langen Jahren aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Ein entfernter Onkel von uns hatte erst Beton für den Atlantikwall gefahren und später einen Arm vor Leningrad gelassen. Eine Verwandte trauerte um ihren im Osten vermissten Ehemann. Der eine meiner Großväter berichtete von Einsätzen als Feuerwehrmann in Bombennächten. Seinen Töchtern wiederum, meiner Mutter und ihrer älteren Schwester, waren die angsterfüllten Nächte im Luftschutzkeller tief eingeprägt. In den anekdotischen Erzählungen meines anderen Großvaters erschien Russland oft wie ein Abenteuerspielplatz. Erst kurz vor seinem Tod kam er auf ein Erschießungskommando zu sprechen, dem er zugeteilt worden war – und dem er sich habe entziehen können. Eine Geschichte, die er meinem Vater nie erzählt hatte. Wie viel mehr trugen sie all die Zeit mit sich? Was beschäftigte sie? Und wie wenig wissen wir wirklich? Wie viel haben sie mit sich alleine ausgemacht? Unsere Eltern und Großeltern waren gut im Verschweigen, deuteten allenfalls an, dass da noch mehr sein könnte, und fraßen allzu oft den Rest stumm in sich hinein. Vielleicht wussten sie nicht, wem sie es erzählen sollten. Vielleicht fehlten ihnen die Worte. |
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Wir wissen heute, wie stark und wie lange Traumatisierungen ins Leben hineinwirken können, wenn das Vergangene nie oder nur unzureichend aufgearbeitet wird. Wenn kein Gegenüber bereit ist zum Zuhören, wenn keine Sprache gefunden werden kann, das Erfahrene mitzuteilen, nistet es sich in uns ein, hält uns besetzt und lastet schwer und dauerhaft auf uns.
Und wir beginnen zu begreifen, wie sehr das Unausgesprochene, Unbewältigte sich über Generationen hinweg in der kollektiven Erinnerung unserer Familien bemerkbar macht, wie schmerzhaft Wunden mit einem Mal aufbrechen oder aber ganz allmählich spürbar werden können. Wunden, von denen wir bisweilen gar nicht wussten, dass es sie gibt. Gedenken verändert sich mit denen, die sich erinnern. Die meisten, die den Weltkrieg erleben mussten, sind längst nicht mehr unter uns, mit ihnen ist die Trauer weitergezogen. Unsere Erinnerungen an die Leidtragenden von gestern verblassen, werden bruchstückhaft. Wir sind mit immer wieder neuen Kriegen und ihren Folgen konfrontiert. In unserer weltweiten Nachbarschaft sterben Tag für Tag Menschen unter Bomben, Drohnen und Raketen. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen schätzt, dass in diesem Jahr 120 Millionen Menschen auf der Flucht sind vor Krieg und Bürgerkrieg, Diskriminierung und Verfolgung, Naturkatastrophen, Hunger und Elend. Millionen gegenwärtige Gründe zum Innehalten und Trauern. Überkommene Formen und Inhalte des Gedenkens wollen von Zeit zu Zeit hinterfragt und gegebenenfalls modifiziert werden, weil sie dem Wandel der Erinnerungskultur nicht ewig standhalten. Das zeigt die Diskussion um die Kranzniederlegung durch den Mainzer Oberbürgermeister am Denkmal für die Besatzung des 1914 untergangenen Leichten Kreuzers „Mainz“. Und ich persönlich bin froh darüber, dass wir heute keinen Heldengedenktag mehr begehen wollen. Auch die Zusammensetzung unserer Gesellschaft unterliegt einem steten Wandel. Zuwanderer haben ihre eigenen Geschichten im Gepäck, bringen ihre eigenen Erfahrungen mit, mitunter auch Überzeugungen, die uns befremden oder sogar verstören. Das ist eine Herausforderung für uns alle. Gleichzeitig scheint die Zahl derer zu wachsen, die kein Vertrauen mehr in die Demokratie setzen. Einige verachten sie unverhohlen, halten den Kompromiss für ein Zeichen von Schwäche statt Größe, führen Diskussionen nur, um Recht zu behalten, statt voneinander zu lernen und sich gegebenenfalls selbst zu korrigieren, sehnen sich nach einem entschlossenen „Führer“, der ihnen den Weg weist und die Mühen der Selbstbefragung erspart. Auch damit müssen wir uns auseinandersetzen. Heute gilt vermutlich mehr denn je, daran zu erinnern, wie leicht unsere Freiheiten erodieren und sich demokratische Verfahrensweisen abschleifen lassen, wie schnell wir erneut in Gefahr geraten könnten, uns autoritären Führungen auszuliefern, die nach Gutdünken über uns verfügen – und die uns am Ende doch wieder nur in Krieg und Leid führen. Die Auseinandersetzung darüber im offenen Gespräch ist notwendig: Der Diskurs hält unsere freiheitliche, demokratische Gesellschaft am Leben. Wir brauchen ihn, um uns immer wieder unserer selbst zu vergewissern, wer wir sind, woher wir kommen und wohin wir gehen. Dazu gehört auch die Frage: Was wollen wir in Zukunft weitergeben? Das Ende des Zweiten Weltkriegs wird im nächsten Frühling 80 Jahre zurückliegen. Die wenigsten der heute Lebenden haben ihn miterlebt. Indem wir heute der Toten der Weltkriege gedenken, rufen wir uns ins Bewusstsein, dass der Krieg, gleichgültig wo auf dieser Welt und wann, die Menschen immer zu Opfern werden lässt, deren körperliche und seelische Wunden der Heilung bedürfen. Mit dem Kriegsende brach die Nazidiktatur zusammen. Indem wir heute die Erinnerung an Opfer von Terror, Gewalt und Willkürherrschaft wachhalten, versuchen wir an das Leiden derer zu erinnern, die fliehen mussten, entrechtet und verfolgt wurden, gequält und ermordet. Aber wir beklagen nicht nur den Verlust einer mit ihnen untergegangenen Welt, sondern rufen dazu auf, nicht erneut Menschen zu drangsalieren und nicht gleichgültig wegzuschauen, wenn Menschen Unheil droht. Im kommenden Frühjahr, am 5. April 2025, wollen wir Stolpersteine setzen für zwei Opfer der NS-„Euthanasie“-Verbrechen. Johanna Schneider aus Nierstein und Hans Borngässer aus Schwabsburg wurden beide 1941 in Hadamar ermordet, weil sie den Nationalsozialisten als „unnütze Esser“ galten, als unproduktive „Ballastexistenzen“, als „lebensunwertes Leben“. Sie fielen einem systematischen Massenmord an Kranken und Schwachen zum Opfer. Deren Geschichten wurden anschließend weitgehend beschwiegen, selbst in den eigenen Familien nur hinter vorgehaltener Hand thematisiert, ob aus Scham oder aus Gleichgültigkeit beiseitegeschoben und verdrängt – bis irgendwann eine oder einer Fragen stellt nach der seltsamen, beunruhigenden Leerstelle im Leben. Indem wir ihnen Stolpersteine setzen, wollen wir ihre Namen nennen, bevor sie vergessen sind. Wir bringen auf diese Weise auch zum Ausdruck, dass die Menschen verachtende Selektierung und Entwertung aufgrund kalter Kosten-Nutzen-Rechnungen keinen Raum mehr haben darf in unserer Gesellschaft. Und wir stellen uns damit gegen jeden Versuch, eben dieses Denken wieder salonfähig zu machen. Wir tun gut daran, um all jene zu trauern, die in Kriegen getötet, die in ihrer Heimat ausgegrenzt und vertrieben, die verfolgt und ermordet wurden. Indem wir immer und immer wieder ihre Geschichte erzählen, behalten wir sie in unserer Erinnerung und geben ihnen einen Platz in unserem Alltag. Nicht zuletzt treten wir denen entgegen, die erneut Menschen kategorisieren und diejenigen beseitigen wollen, die ihnen aus welchem Grund nicht passen, die erneut die Gesellschaft spalten und dem Ressentiment, dem Hass, der Gewalt den Weg bereiten wollen. All das mahnt uns, wie notwendig es ist, miteinander ins Gespräch zu kommen, uns auszutauschen über Erlebtes und Erfahrenes, Erlittenes und Erduldetes. Wir wollen nicht sprachlos sein, sondern mitteilungsfähig, nicht zuletzt mitleidsfähig. Fangen wir an, einander zu erzählen, wer wir sind, wovon wir leben und zehren, was wir erinnern, woran wir glauben und worauf wir hoffen. Hören wir einander zu, werden wir aufmerksam, was andere mit uns teilen wollen. Schaffen wir eine lebendige Erinnerungskultur in unseren Familien. Begreifen wir das als Chance für unsere sich wandelnde Gesellschaft, die sich mehr und mehr diversifiziert, die sich in separate Räume aufspaltet, in denen unterschiedliche Wahrheiten zu gelten scheinen. Und in der wir Gefahr laufen, in unseren jeweiligen Echokammern zu sitzen und den Ausgang nicht mehr zu finden. Es geht nicht darum, einander besserwisserisch die Welt zu erklären, sondern stattdessen miteinander zu reden, einander unsere Geschichten zu erzählen. So kann – hoffentlich! – gelingen, wovon Paul Löbe vor mehr als hundert Jahren sprach: „Leiden zu lindern, Wunden zu heilen, aber auch Tote zu ehren, Verlorene zu beklagen, bedeutet Abkehr vom Hass, bedeutet Hinkehr zur Liebe, und unsere Welt hat die Liebe not [...]“. Daran hat sich seit 1922 so gar nichts geändert.
Jörg Adrian |
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© Fotos: Frank Zimmermann | ||
Nierstein, 17. November 2024 |