„Ein Puzzleteil gegen das Vergessen“

Ute Bales las in der Evangelischen Martinskirche in Nierstein aus ihrem neuen Roman „Am Kornsand“
von Jörg Adrian

Helga fühlt sich unwohl in ihrer Haut. Ein permanent juckender Hautausschlag macht ihr zu schaffen, für den es keine Erklärung gibt und keine wirksame Medizin. Sie verspürt ein anhaltendes und dunkles Unbehagen, kann es nicht recht beim Namen nennen und merkt doch, dass da etwas nicht stimmt mit ihr – und mit ihrer Familie.

Ute Bales ließ die körperlichen Beklemmungen des Mädchens spürbar werden, als sie am 14. April 2023 in der Evangelischen Martinskirche in Nierstein aus ihrem neuen Roman „Am Kornsand“ las. Gemeinsam mit der Stadt Nierstein und dem Arbeitskreis Kornsand, der Evangelischen und der Katholischen Kirchengemeinde sowie der Kreisvolkshochschule hatte der Geschichtsverein Nierstein zu einer Lesung mit der Autorin eingeladen, die zudem von der Stiftung Kultur im Landkreis gefördert wurde. Hans-Peter Hexemer, Vorsitzender des Geschichtsvereins, führte in den Abend und die Thematik der Kornsandmorde ein.

Dann folgten die rund 80 Zuhörerinnen und Zuhörer aufmerksam und gespannt etwa eine Stunde lang Ute Bales’ eindringlichen Schilderungen aus Helgas Kindheit und Jugend in den siebziger Jahren: von der unheimlichen Kälte in der Familie, der fehlenden Nähe und Zuneigung im Zusammenleben mit einem autoritären, meist schweigenden Vater und einer überwiegend beiseite stehenden Mutter; vom Aufenthalt im Verschickungsheim an der Nordsee, der der Erholung und Heilung dienen soll, aber in Bedrängnis und Demütigung umschlägt, der letztlich keinerlei Besserung bringt, sondern vielmehr neue Angst und Pein; von der Freundschaft mit Frank, der so ganz anders ist, freier denkt und selbstbewusst auftritt, der sich politisch engagiert und sie eines Tages mit einer Geschichte konfrontiert, die sie nicht gekannt hat, weil sie vor ihr verborgen worden ist, und mit der plötzlich ein schreckliches Licht auf so viel Unerklärliches fällt.

Ute Bales verknüpft zwei Lebensläufe miteinander, die so wenig gemeinsam haben: Den der ahnungslosen und doch dunkel ahnenden Tochter, über die plötzlich eine brutale Wirklichkeit hereinbricht, mit dem ihres Vaters, der nie darüber gesprochen hat, was er im Krieg tatsächlich getan hat und von dem nun mit einem Mal offenbar wird, dass er als achtzehnjähriger Offizier in den letzten Kriegstagen auf Befehl sechs Menschen erschossen hat.

Beides ist der Autorin wichtig, das Davor und das Danach, und so erzählt sie neben Helgas Geschichte auch den Werdegang dieses Hans Kaiser aus der Eifel, der als Junge in die Hitlerjugend eintritt und begeistert Lieder singt in Zeltlagern und auf Geländemärschen, der von einer neuen, glorreichen Zeit träumt und davon, darin selbst jemand zu werden und zu sein. Der mit siebzehn Jahren eingezogen wird und sich im Krieg beweisen soll und will. Und der im März 1945 auf dem Kornsand gegenüber von Nierstein entschlossen zur Waffe greift, als alle anderen zurückweichen, und mit Genickschuss die Zivilisten ermordet, die er nie zuvor gesehen hat und die ihm nichts bedeuten, von denen ihm aber gesagt worden ist, sie seien gefährlich und unbedingt zu liquidieren.

Ute Bales begnügt sich in ihrem Roman nicht mit der bloßen Erzählung eines Endphaseverbrechens, von denen es so viele gab im damaligen Reichsgebiet und bei denen Zivilisten und Soldaten in der Regel wegen angeblicher Wehrkraftzersetzung oder Fahnenflucht durch Angehörige staatlicher Organe oder nationalsozialistischer Organisationen ermordet wurden. Sie wirft vielmehr drängende Fragen auf: Wie kann es dazu kommen, dass gewöhnliche Menschen zu Mördern werden und solche Schuld auf sich laden? Vor allem aber: Wie wirkt sich dies aus auf Opfer und Täter – und auf uns?

Als Helga mit ihrem Vater reden, ihn zum Sprechen bringen will, weicht er aus und flüchtet sich in Gemeinplätze. Als ob eine Flucht aus der Verantwortung möglich wäre, als ob es eine Chance gäbe, sich selbst aus dem Weg zu gehen, der eigenen Schuld zu entkommen, wo einen individuelle Schuld doch immerzu begleitet – ebenso wie die Verantwortung mit ihr umzugehen. Die Begegnung mit der Sprachlosigkeit – wie auch mit der oft zitierten Unfähigkeit zu trauern – teilt Helga mit vielen Nachgeborenen, die mit ihren Fragen vor allem Schweigen hervorriefen, ein mal bitteres, mal trotziges, immer aber beklemmendes, weil ausschließendes Schweigen: „Es ist nichts, was du wissen müsstest“.

Deutlich macht Ute Bales die generationenübergreifende Verstörung mit eindrücklichen Bildern und einem sinnreichen Gespür für körperlich Erfahrbares, etwa wenn sie den quälenden Juckreiz Helgas schildert oder die Tochter die Hand ihres Vaters „mit bläulich durchscheinenden Adern auf dem Handrücken und schrumpeliger Haut auf den Knöcheln“ beobachten lässt, „eine Hand mit Narben, Poren und Falten und mit einer Handfläche, die von hundert Linien durchzogen ist“ – und von der sich Helga eingestehen muss, dass es die Hand eines Mörders ist.

Ute Bales gelingt es, eine Geschichte aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinzutragen. Sie thematisiert die Nachwirkungen auf die Kinder- und Enkelgeneration und richtet den Blick auf das, was scheinbar längst Vergangenes mit uns in unserer Gegenwart macht. Das war von Anfang an das ausschlaggebende Motiv für den Geschichtsverein, die Autorin zu dieser Lesung einzuladen. Und das kam bei ihrem Auditorium genau so an. Für Eva Nollert ist ihre Herangehensweise beeindruckend: „Was eigentlich doch die Geschichten unserer Großeltern sind, bekommt einen Lebensbezug zu uns und wird so griffig und aktuell.“ Dem stimmen Ursula und Jürgen Philippi unumwunden zu: „Ute Bales hat uns mit ihrer lebhaft dargebotenen Lesung mitgenommen auf eine Reise in die Vergangenheit mit vielen Bezügen zur Gegenwart. Eine solch beeindruckende und bedrückende Lebensgeschichte aus der Perspektive des Täters und dessen Umfeldes zu erzählen, hat uns tief berührt.“

Das anschließende Gespräch der Schriftstellerin mit ihrem Publikum thematisierte denn auch nicht nur die Entstehungsgeschichte des Romans, sondern gerade seine Annäherung an die Täterseite. „Der Blick auf die Täterfigur wirkt dabei keinesfalls wie eine Entschuldigung für ihr unglaublich grausames Handeln, wenngleich wir Mitleid mit der Tochter empfinden, die geradezu körperlich unter dem Trauma des Vaters zu leiden hat“, merkt hinterher Evelyn Hachenberg an, die eigens aus Alzey angereist ist. Zugleich förderte dieser Zugang das Befremden darüber zu Tage, dass nach dem Krieg Täter- und Opferfamilien im selben Ort nebeneinander lebten und voneinander wussten. Und so erzählte Peter Gruber, Urgroßneffe eines der Kornsandopfer von einer Begegnung mit der Nachfahrin eines der Täter. Raimund Darmstadt, der in den 1980er Jahren eine Dokumentation der Verbrechen veröffentlicht hatte, berichtete von Gesprächen mit den Angehörigen der Opfer. Hans-Peter Hexemer, der sich lebenslang mit dem Thema befasst, Verwandte von Tätern und Opfern kennt und bis heute Kontakte zu mehreren Opfernachfahren hat, wünschte sich, dass es zu einer Begegnung der Nachfahren kommen könne, bei der bislang Unausgesprochenes endlich in Worte gefasst werde.

Dem Roman als Motto anfangs mitgegeben ist ein Wort des amerikanischen Erzählers William Faulkner: „Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen.“ Und so steht am Ende des Romans Helga mit ihrem eigenen Kind im Kinderwagen. Sie habe bewusst mit der Tochter enden wollen, beantwortete Ute Bales eine Zuhörerfrage, weil es stets weitergehe. „Irgendwo wäre es vielleicht anders. Nicht heller und nicht dunkler, aber vielleicht anders“, lässt sie Helga in der Schlusssequenz sinnieren und fügt hinzu: „Dabei weiß sie sehr genau, dass sie, egal wo sie hingeht, die Geschichte des Vaters mit sich trägt.“

„Es war ein gelungener Abend“, erklärt schließlich Leo Nollert und hält kurz inne, „ein weiteres wichtiges Puzzleteil gegen das Vergessen.“

     
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Nierstein, 14. April 2023